Die Pandemie und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für zwei Stunden vergessen – vielleicht gelingt einem das bei der Premiere „Passagen“ des Bayerischen Staatsballetts. Der dreiteilige Abend eröffnet an diesem Samstag im Nationaltheater die Ballettfestwoche, die bis 3. April dauert. Drei international gefragte Choreografen präsentieren Stücke im neoklassischen und post-neoklassischen Stil.
Der Russe Alexei Ratmansky, auch historisch interessiert, hat für das Staatsballett bereits 2014 Marius Petipas Handlungsballett „Paquita“ (1881) rekonstruiert. Jetzt überlässt er dem Ensemble sein 2014 für das New York City Ballet entworfenes abstraktes Stück „Bilder einer Ausstellung“ zu Modest Mussorgskys gleichnamigem Klavierzyklus. Dazu gibt es zwei Uraufführungen: „Sweet Bones’ Melody“ von Hannovers Tanzchef Marco Goecke zum Orchesterwerk „Mannequin“ (2014/15), das die Komponistin Unsuk Chin speziell für Goecke neu einrichtet. Für Münchner Tanzfans an dieser Stelle noch ein Hinweis: Goeckes großartiges „La Strada“ nach dem gleichnamigen Fellini-Film, 2018 fürs Münchner Gärtnerplatztheater kreiert, wurde heuer wieder aufgenommen (zu sehen noch am 5. und 18. Juni).
Ganz neu hierorts ist der Brite David Dawson. Nach seiner Ausbildung an der Londoner Royal Ballet School tanzt er – und bald als Solist – in verschiedenen namhaften Compagnien, verschreibt sich ab 2002 ganz der Choreografie. Für seine erste Staatsballett-Kreation wählte er Marjan Mozetichs Violinkonzert „Affairs of the Heart“ von 1997/98.
„Ich habe diese wunderbare Musik vor zwei Jahren entdeckt“, geht Dawson gleich in medias res. „Es ist eine traditionelle dreiteilige Konzertpartitur, aber sie hört sich ganz zeitgenössisch an: allumfassend und ungemein rhythmisch. Darauf muss man einfach tanzen!“ Unüberhörbar: Hier erklärt sich einer, der für seine Kunst brennt. „Der Titel deutet eine Lebensreise an, während der das Herz alle Farben von Emotionen erfährt – das Dunkle und das Lichte. Und jeder Tänzer erschafft die Reise seines eigenen Herzens als unmittelbare Antwort auf die Musik.“
Der Choreograf Dawson als Dichter und Deutender: „Wenn wir die ganz besondere Beziehung erspüren, die zwischen Musik und Tanz besteht, dann sind wir fähig, den Körper als Musik wahrzunehmen. Wir alle können die Melodie werden und deshalb alle zu dem Tänzer auf der Bühne werden.“
Von solchen tanzphilosophischen Setzungen kann er aber auch herabsteigen zu ganz faktischen Aussagen. Uneitel und dankbar nennt er seine Lehrer und Vorbilder: „Nijinky, Nurejew, Balanchine, McMillan, van Manen, Bausch und Forsythe. Sie alle haben beigetragen, mein Tanz-Verständnis zu formen.“ Überhaupt sei Tanz „die anhaltende und mächtigste Kraft in meinem Leben“.
Dies gilt sicher auch für Marco Goecke, übrigens wie Dawson Jahrgang 1972. Stilistisch ist Goecke jedoch so überraschend anders. Er überfliegt die klassische wie die moderne Tradition und findet im scheinbar banalen Alltag Bewegungsmaterial, das er künstlerisch neu modelliert zu bizarren Gesten von Armen und Händen. Wurde der gebürtige Wuppertaler vielleicht ganz früh von Pina Bauschs tanzenden Händen inspiriert? Das könnte durchaus sein. Aber Goecke hat sich dann doch in eine ganz eigene Richtung entwickelt.
Für seinen surreal gestischen Stil ist Unsuk Chins Komposition „Mannequin“ ein Glücksfall. „Ja, diese Musik ist mir nahe in ihrer Detailversessenheit“, sagt Goecke. „Sie besteht aus vielen Splittern, ähnlich den Splittern in meinen Bewegungen.“ Und was kann Goecke uns als inhaltlichen Hinweis geben? „Meine Stücke haben immer etwas mit Kommen und Gehen zu tun, mit Vergänglichkeit und auch mit Schönheit. Und es ist immer etwas Persönliches der Tänzer dabei, was sie dann durch meine Sprache ausdrücken.“
Goecke war dem Stuttgart Ballett von 2005 bis 2018 als Haus-Choreograf verpflichtet, bevor er 2019/20 die Tanz-Direktion am Staatstheater Hannover übernahm. Von Anfang an arbeitete er aber auch freischaffend, nimmt auch weiterhin Gastaufträge an. „Das ist mein Leben seit 20 Jahren. Und dies, obwohl ich eigentlich Angst vor Neuem habe. Aber das ist ja auch das Spannende, etwas Neues mit neuen Leuten zu entwickeln.“
Premiere
an diesem Samstag, nächste Aufführungen am Sonntag sowie am 9. und 12. April;
Telefon 089/21 85 19 20.