Man staunt: Staatsballett-Chef Igor Zelensky, bekanntlich eher ein Traditionalist, ist mit dem neuen Dreiteiler „Passagen“ doch tatsächlich in der spannenden Gegenwart des Tanzes angekommen. Dafür war es höchste Zeit – wie sehr man auch Klassiker wie „Giselle“ und „Schwanensee“ schätzt (ebenfalls im Programm der Ballettfestwoche bis 3. April). Jedenfalls, Corona-Maske zum Trotz, heller Jubel im Münchner Nationaltheater beim Auftakt des Festivals. „Passagen“ – der Titel trifft genau, was hier jeweils getanzt wird: der Übergang von einer etablierten in eine andere, neue Form; ein Eilen durch Raum und Zeit; die Flüchtigkeit auch des Seins.
Der Russe Alexei Ratmansky, der Brite David Dawson und der Deutsche Marco Goecke wagen (wenn auch in verschieden starker Ausdrücklichkeit) den Sprung über die Klassik hinaus. Ihre Arbeiten fordern berechtigt die Anerkennung als abstrakte, als expressionistische Kunst – so, wie es in der Malerei und Musik seit jeher ganz selbstverständlich ist.
Zunächst zu Alexei Ratmansky, der ja bereits 2014 fürs Bayerische Staatsballett Petipas „Paquita“ (1881) rekonstruierte. Ratmanskys „historische Leidenschaft“ war wohl auch eine Inspiration für das jetzt mitgebrachte Mussorgski-Stück „Bilder einer Ausstellung“ (2014 für das New York City Ballet). Hier zeigt er sein Können in einer sportiven bis virtuos akrobatischen Neoklassik. Sehr galant webt er aber historisch anmutende Gesten und einen Hauch Ballett-Folklore ein, uns bestens bekannt aus den Handlungsballetten des 19. Jahrhunderts. Volkssagen-figuren wie die Hexe Baba Jaga oder den Gnom in Mussorgskis Komposition hat er modern umgewandelt. Einige der auf die Rückwand projizierten bunten Kandinsky-Kringel flitzen – das Licht-Design macht’s möglich – auch schon mal überraschend davon. Und die duftigen, leichten Kostüme in Kandinsky-Farben betonen noch die heitere, spielerische Atmosphäre.
Mit Dmitry Mayboroda am Klavier lieferte dieser Ratmansky das geeignete Interludium für die beiden Uraufführungen. Gleich zu Beginn des Abends hebt einen David Dawsons Kreation wie auf Schwingen durch das scheinbar endlose Strömen von Musik und Tanz. Die klanglich mehrschichtige, treibende Komposition des Kanadiers Marjan Mozetich und Dawsons unaufhörlich fließende Choreografie gehen wie selbstverständlich diese Liebesbeziehung ein, die im Titel „Affairs of the Heart“ angedeutet wird. Von rechts und von links laufen die Tänzerinnen und Tänzer herein, immer wieder, bilden kurzzeitig Paare, lösen sich wieder voneinander. Es wird nie konkret etwas erzählt, aber jeder Körper, den Torso weit und hoch geöffnet, bedeutet Erwartung. Die weichen Ports de bras, das Vertrauen auf den stützenden Partner, ja auch schon das atemlos gleitende Laufen sprechen von Sehnsucht, von erwartungsvoller Hingabe. Dawson ist kein radikaler Erneuerer. Aber die aus einem wahrhaftigen Gefühl heraus geformte Bewegungssprache, die ohne eitles Brio erlangte Bildhaftigkeit – das ist die Kunst des Tanzes.
Und dann der Rebell Marco Goecke. Schon als Student der Münchner Ballett-Akademie/ Musikhochschule war er widerständig – und hat schließlich seine Mitte gefunden, auch seinen Platz als Hannovers Tanzchef. Schon in seinen ersten Stücken faszinierte er mit seinen wild bewegten Armen und Händen. Es war und ist ein Explodieren nach außen dessen, was im Innern tobt. In diesem neuen „Sweet Bones’ Melody“ geht die Bewegung schon mehr durch den Körper, bis hinein in die Schulterblätter und Hüften. Aber es sind wieder Goeckes schwarz gekleidete Wesen in einer düsteren Welt, über der schwarzes und weißes Gewölk hängt – ein giftiges vielleicht. Und die Akteure diskutieren in ihrer stummen, messerscharf aggressiven Gestensprache.
Sind es befremdliche Außerirdische, mit denen wir nicht sprechen können? Oder kriegerisch programmierte Avatare? Goeckes Werke sind offen für verschiedene Deutungen. Man assoziert hier die Arbeitssklaven in Fritz Langs Stummfilm „Metropolis“ von 1926, aber auch die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine, in der menschlich vernünftige Verständigung scheitert. Die Schnelligkeit der Bewegungen, die wie aus den Fugen geratende, in Schrillheit und Schmerz zerberstende Komposition der Koreanerin Unsuk Chin, das trifft einen bis ins Mark. Von Solist bis Gruppentänzer – das Staatsballett war in allen Stücken super. Ein großes Lob auch für die Ausstatter, den Dirigenten Tom Seligman und das Staatsorchester.
Weitere Vorstellungen
am 9. und 12. April sowie am 3., 7. und 12. Mai;
Telefon 089/21 85 19 20.
Choreografien wagen sich aus der Klassik heraus
Auch der Krieg in der Ukraine
schwingt mit