Die Stimmung ist nicht gut zu Beginn des Abends. Die bunte Truppe im schlossähnlichen Bühnenbau mit seinen Goldtapeten und roten Samtvorhängen langweilt sich schier zu Tode. Und lamentiert lauthals darüber, in wunderbar dadaistischen Wortkaskaden. „Den Dingen ist eine Tendenz der Entgeilisierung inne“, weiß beispielsweise Herr Frau Pernelle. Wie wahr. Zu dieser Figur, mit großartigem Feuer gespielt von Katja Jung, hat Autor und Musiker PeterLicht das greise Elternpaar des originalen „Tartuffe“ von Molière zusammengezogen.
Passt hervorragend, wie überhaupt so viele Neuerungen der Stück-Überschreibung neben einem großen Spaß auch noch eine kluge Gegenwarts- und Sprachkritik bieten. Zu sechst stehen sie anfangs auf der Bühne, die in Pseudo-Barock-Kostüme gewandeten Hofschranzen des reichen Orgon oder „Orgi“ (Florian von Manteuffel), jammern über „diese ganze ungeile Geilheits-Ungeilheitsorientierung“ und rätseln, ob es nun „keine Ungeilheit im Geilen“, oder eher doch „keine Geilheit im Ungeilen“ gebe. Kompletter geistiger Leerlauf also.
Den soll der neue Bekannte von Orgi, der hymnisch verehrte Tartuffe, genannt „Tüffi“ (Nicola Mastroberardino) beenden. Orgi hofft auf frischen Wind fürs spiralenförmig um bestimmte Signalwörter wie „geil“ oder „okay“ kreisende Geplauder. Endlich neue Themen anstatt der immer gleichen Frage, ob Gummibärchen gestanzt, geschöpft oder gegossen werden. Die Diskussionen geraten mit jeden Satz sinnentleerter, bis am Ende kein Thema mehr Bedeutung hat und alles gleich banal und schal geworden ist.
Als „der Tüffi“ zur Hälfte des Stücks endlich auf der Bühne erscheint, entpuppt sich der Kerl ziemlich schnell als veritable Enttäuschung. Obwohl er wunderschön grunzen und noch trefflicher von der „Penisgeneigtheit der Welt“ fabulieren kann. Besonders der erste Auftritt des voller Inbrunst Herbeigesehnten ist Regisseurin Claudia Bauer gut gelungen: Mit lauten Matschschritten, breitbeinig, wortkarg und verdreckt stampft Mastroberardino im dick gepolsterten Schweinekostüm auf die Bühne und verlangt sofort nach „Kontextualisierung“ mit den Damen des Hauses. „Flachl…“ ist gemeint, wispern die Umstehenden.
Anfangs ein ekliger Gedanke, aber „irgendwie okay“ ist es dann doch. Schließlich ist alles besser als ewig „dieser okaybetriebene Mittelbereich“ voller „Okayleute“ und „Okayhandlungen“. Man sehnt sich nach konkreten Tatsachen, nackt dürfen sie auch gerne sein. Weshalb alle im Verlauf des von Dampfplauderer Tüffi anberaumten Workshops in Unterwäsche und Korsettagen auf der Bühne herumstreunen. Jeder lässt seine Maske fallen und identifiziert sich als ein anderer. Aber Aufregung oder auch nur Interesse provoziert das nicht mehr. Am Schluss ist sowieso alles egal und es geht nur noch ums Geld, das sich mit der immer wieder neu von vorne beginnenden Gelangweiltheit des Anfangs verdienen lässt.
Das bereits in Basel damit tätige, kongeniale Duo PeterLicht und Claudia Bauer hat aus dem verstaubten Molière-Text ein glitzerndes und schillerndes Satyrspiel geformt. „Das Alte hat im Theater keinen Bestand“, erklärt PeterLicht im Programmheft. „Wir setzen uns ins Theater und nicht ins Museum. Alte Texte muss man zerstäuben. Man muss sie Wort für Wort zerreiben. Und den Plot verschleißen, dann entsteht wieder etwas.“
Vielleicht nicht immer. Aber hier hat’s geklappt. Rhythmus und Figurenpersonal wurden weitgehend von Molière übernommen. Ansonsten haben PeterLicht und Claudia Bauer ohne Rücksicht auf den kanonischen Franzosen durch diese radikale Überschreibung ein zeitgenössisches Drama von hoher Aktualität geschaffen, das durch die griffigen Wortneuschöpfungen und Sprachspielereien im besten René- Pollesch-Style immer launig wie eine Komödie wirkt. Zugleich ist das aber eine gnadenlose, bittere Abrechnung mit unserer Gesellschaft, in der Bedeutung vorwiegend künstlich erzeugt wird und meistens kaum mehr als fünf Minuten andauert.
Besondere Bewunderung verdient das hinreißende Ensemble. Bis auf zwei Schauspieler waren sie bei diesem „Tartuffe oder Das Schwein der Weisen“ schon 2018 in Basel dabei. Neben den bereits Erwähnten etwa Max Rothbart, Pia Händler oder die unverwüstliche Myriam Schröder. Wie gut, dass Intendant Andreas Beck diese Inszenierung mit nach München brachte. Vergleicht man die Mitschnitte im Netz mit der Premiere am Residenztheater, gewinnt man schnell den Eindruck, dass dieser Münchner „Tartuffe“ noch ein wenig mehr aufs Tempo drücken konnte, noch mehr Slapstick, Spannung und Energie versprüht.
Weitere Vorstellungen
am 9. und 29. April sowie am 5. Mai; Telefon 089/21 85 19 40.