Widerstand gegen den Wolf

von Redaktion

„Klittern (aesopica)“ im Werkraum der Kammerspiele

VON ULRIKE FRICK

Der Stärkere setzt sich immer durch, auch wenn er im Unrecht ist. Er findet für seine Absichten und Taten, egal, wie unlauter sie sein mögen, immer eine Begründung. So lautet kurz zusammengefasst die Moral der Fabel vom Lamm und dem Wolf, die der antike Dichter Aesop im sechsten Jahrhundert vor Christus verfasst hat. Da beschimpft der Wolf das aus dem Fluss trinkende Schaf, sein potenzielles Opfer. Es würde ihm, der ebenfalls trinken wolle, „das Wasser trübe machen“. Am Ende geht es bekanntlich, so besonnen das Schaf auch reagieren mag, immer übel für den wolligen Vierbeiner aus.

Nur in einer Variation kommt das Schaf ungeschoren davon: Es bittet den Wolf, ihm einen letzten Wunsch zu gewähren. Es möchte noch einmal tanzen. Der Wolf spielt auf seiner Flöte. Der Klang ruft den Hirtenhund herbei, das Schaf kann entkommen. Auf diese Variante der Fabel konzentrieren sich auf der Bühne Luis Garay, Stanislav Iordanov und Elena Wolff in der von G. Boyd Kuhlmann erarbeiteten Inszenierung „Klittern (aesopica)“, die im Werkraum der Münchner Kammerspiele Premiere hatte.

Kuhlmann entwirft mit knappen Bühnenmitteln immer wieder neue Taktiken des Widerstandes. Welche Möglichkeiten hat ein Schaf, sprich ein ethisch verantwortlich Handelnder, inmitten von Wölfen, um nicht nur mit dem Leben davonzu- kommen, sondern um sich gegenüber seinem übergriffigen Gegner zu behaupten? Offizielle Institutionen oder legitime Formen der Machtausübung erweisen sich schnell als ungeeignet. Camouflage, also Täuschung, oder Verweigerung oder gar ein radikaler gesellschaftlicher Wandel dagegen wären erfolgversprechender.

In wechselnden Rollenzuschreibungen und stark assoziativen Szenarien stellen die drei Personen auf der Bühne die immer asymmetrischen, immer gleichen und doch immer wieder leicht veränderten, trotz aller Starrheit variablen Machtverhältnisse mitsamt ihrem ebenfalls höchst unterschiedlich ausgeprägten Gewaltpotenzial dar. Das illustrieren die Schauspieler inmitten des von den bildenden Künstlerinnen Achinoam Alon, Nora Kapfer und Flora Klein entworfenen, bis ins Detail durchdachten Bühnenbilds – mit Bücherstapeln, stilisiertem Wald und Steingarten im Hochbeet.

Das sich im Dickicht verbergende Reh zum Beispiel macht alles richtig, ist aber letztlich hilflos den Attacken ausgeliefert. Die Kostüme von Carla Renée Loose deuten die wechselnden Machtgefüge subtil an. Mal trägt jene den schwarzen Anzug, mal dieser. Das selbstvergessen und frei tänzelnde Lamm (Luis Garay) im unschuldigen Weiß möchte man am liebsten in den Arm nehmen und behüten. Das an anderer Stelle erlegte Wild (Elena Wolff) ebenso.

Den drei Künstlern gelingt es mit ihrem intensiven Spiel, auch den gelegentlich ziemlich verschwurbelten oder vernuschelten Momenten dieser englisch- und deutsch-sprachigen Performance eine große Tiefe zu verleihen.

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