Auf der Riesengeige

von Redaktion

Andrés Orozco-Estrada und Ausnahmesolisten beim BR-Symphonieorchester

Der Bayerische Rundfunk setzt auf sein Hausrecht und die Maskenpflicht fort. Der Herkulessaal ist nur zu etwa drei Vierteln gefüllt. Und doch ist Corona an diesem Abend ganz weit weg, weil Dirigent Andrés Orozco-Estrada im Rahmen seines Gastspiels beim BR-Symphonieorchester ein im besten Sinne widersprüchliches Programm auf die Bühne zaubert – eingängig und exzentrisch, mitreißend und überraschend zugleich.

Die erste Hälfte frönt dem klassischen Kanon und bietet gleich zwei Ausnahmesolisten: Renaud Capuçon und Daniel Müller-Schott spielen Johannes Brahms’ Doppelkonzert für Violine und Violoncello. Der französische Geiger und der deutsche Cellist gehören jeder für sich zu den Größten ihrer Zunft; im Duett wachsen sie noch ein Stückchen weiter und außerdem zusammen.

Das liegt zum einen an der Anlage der Komposition, in der Brahms die beiden Instrumente zu einer achtsaitigen Riesengeige verschmilzt. Zum anderen sind Capuçon und Müller-Schott ähnliche Spielertypen, die sich nicht komplementär ergänzen, sondern in ihrer Tongebung und im Ausdruck harmonieren – das demonstrieren sie nicht zuletzt in ihrer schwindelerregenden Zugabe von Johann Halvorsens „Passacaglia“.

Die zweite Konzerthälfte widersetzt sich dem Kanon mit selten gespieltem Repertoire, das Orozco-Estrada auf Klassikerstatus hebt: In „Der wunderbare Mandarin“, Béla Bartóks ungestüm tosender „Pantomime grotesque“, wird der extrem agile und bewegliche Dirigent selbst zum tänzelnden Darsteller, während das Ensemble zeigen kann, dass es in puncto Virtuosität den Weltklassesolisten kaum nachsteht. Unverständlichen Seltenheitswert besitzen die „Paganini-Variationen“ von Boris Blacher. Mithilfe des Orchesters wird ein nur wenige Takte umfassendes Thema des Teufelsgeigers nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen und neu zusammensetzt – also im besten Sinne: komponiert. ANNA SCHÜRMER

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