Fast könnte man meinen, man wäre in einem ganz normalen Konzert: Niemand singt ukrainische Hymnen, keiner bittet um Kriegsopfer-Spenden. Doch in Wahrheit ist dieser Auftritt der Staatskapelle Dresden bei den Salzburger Osterfestspielen extrem emotional aufgeladen. Denn am Dirigentenpult steht der Russe Tugan Sokhiev, der im März nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine seine Musikdirektor-Chefposten sowohl am Moskauer Bolschoi-Theater als auch an der Toulouser Oper niederlegte, weil er sich laut eigenen Worten nicht zu der unmöglichen Entscheidung zwischen zwei kulturellen Traditionen zwingen lassen wollte.
An diesem denkwürdigen Abend im Großen Festspielhaus dirigiert er nun ausgerechnet Schostakowitschs siebte Symphonie, komponiert 1941 im von deutschen Truppen belagerten Leningrad, uraufgeführt 1942 durch das Bolschoi-Orchester – und vom Stalin-Regime gefeiert als Hymne auf den russischen Sieg über die Nazi-Invasoren.
Vom ersten Takt an fasziniert Sokhiev mit seiner sinnlichen Performance: Kein anderer Dirigent von Weltrang bietet eine anschaulichere Choreografie. Der 44-Jährige agiert ohne Taktstock, aber dafür mit seinem ganzen Körper, als habe er sich für jeden Melodiefetzen und jede Begleitfigur eine pantomimische Geste überlegt. So führt er das Orchester (und uns) souverän durch das Mammutwerk – und richtet den Blick dabei immer wieder gezielt auf Details der Partitur. Er lässt seine Finger flattern, zucken, kreisen oder zustechen; er wirkt mal wie ein schwebender Adler, mal wie ein aufdringlicher Stehgeiger, mal wie ein sanftmütiger Schlangenbeschwörer, der sich selbst in eine Schlange verwandelt, wenn seine Hand plötzlich hochschnellt und zuschnappt… Kurz gesagt: Sokhiev ist eine Schau.
Und dann kommt sie, die berühmte „Invasions-Episode“, die zur Zeit der Uraufführung gedeutet wurde als Vertonung des Einmarschs der deutschen Armee in Russland. Schostakowitsch selbst, der massiv unter der Willkür des russischen Regimes litt, stellte später klar, dass er bei dieser Passage an jede Form von Terror, Tyrannei und Totalitarismus gedacht habe.
Seine Musik schildert, wie sich in eine Idylle langsam das Böse einschleicht, symbolisiert durch einen martialischen Rhythmus und eine banale Melodie, die stumpfsinnig wiederholt wird, erst ganz leise, dann immer lauter, schriller und brutaler, bis sich das Ganze zum Blutrausch steigert. Spannende Frage: Wie sieht Sokhievs Choreografie hierzu aus? Verblüffende Antwort: Der sonst so agile Animateur macht minutenlang so gut wie gar nichts, gibt nur wenige, fast unsichtbare Zeichen, steht einfach starr da – als würde er selbst mit ungläubigem Entsetzen beobachten, was da passiert.
Auch den weiteren Konzertverlauf, von der ergreifenden Totenklage des Fagotts bis hin zum vergifteten Finaljubel, wird man so schnell nicht vergessen. Sokhiev lässt Bläser-Akkorde bedrohlich anschwellen und Streicher-Pizzicati rausknallen; er zeigt keine Scheu vor greller Groteske, kostet aber vor allem intime, fein abschattierte Pianissimo-Passagen aus, in denen er bislang Ungehörtes und Unerhörtes entdeckt.
Sein dynamisches Dirigat inspiriert die Staatskapelle zu Höhenflügen: Die Dresdner spielen Schostakowitsch, als hätten sie Borschtsch im Blut. Wen juckt’s, aus welchem Land der Komponist, der Dirigent oder die Orchestermitglieder stammen? Dieser packende Auftritt ist ein Sieg der Musik über die Politik, ein Triumph der Humanität über den Hass, ein Fanal für die Heilkraft der Künste in Zeiten des Krieges. Der Lohn: Standing Ovations, die Sokhiev gerührt und dankbar entgegennimmt.
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Weitere Aufführung
am 17. April,
osterfestspiele-salzburg.at.