Es muss die gute Bergluft sein. Denkt sich die Städterin, während sie zurück zum Oberammergauer Bahnhof läuft. Was die hier alles auf die Beine stellen! Das hiesige Passionstheater ist weltbekannt; aber dass auch das kleine, sehr feine Oberammergau Museum immer wieder Besonderes entstehen lässt, übersieht mancher Tourist. Achtlos laufen viele vorüber. Das mag an der benachbarten Eisdiele oder dem Einrichtungsladen gegenüber mit den hübschen Servietten liegen. Vielleicht auch an der unauffälligen Fassade. Dabei verbirgt sich im Inneren Holzschnitzkunst auf höchstem Niveau. Allein: Wie bringt man das im heutigen Kunstbetrieb, in dem schrill und laut viel zu häufig inhaltlich gehaltvoll aussticht, an Mann, Frau und Kind? Wie begeistert man dafür, genau hinzusehen, sich zu ergötzen an nur scheinbar altbackenen Themen wie Tradition, gar mit Religion verknüpft?
Constanze Werner hat die Lösung. Die Museumsleiterin ist eine dynamische Frau, die man sich gut beim Hinaufkraxeln der umliegenden Berge vorstellen kann. Genauso dynamisch brennt sie für ihr Museum. Werner möchte nicht bloß Menschen empfangen, die kommen, weil das eben zu einem Besuch in Oberammergau dazugehört. Nach dem Motto: bisschen Berge, sehr viel Bier, Haxn und Kaiserschmarrn, und zum Abschluss irgendwas mit Kunst. Sie lässt sich immer neue Wege einfallen, für ihre Sammlungsschätze zu begeistern. Mit der Schau, die morgen startet, hat sie sich selbst übertroffen.
Wie man Menschen dazu bringt, genauer hinzuschauen? Man macht’s wie jede Femme Fatale, die weiß: Bedecke dich mit aufreizender Kleidung – das lenkt die Augen mehr auf dich als dein nackter Körper. Verhüllung führt zu Sichtbarkeit. Klingt widersprüchlich? Gehen wir noch einmal ein paar Schritte auf der Dorfstraße zurück zur Eisdiele und beobachten – mit einer Tüte Vanilleeis in der Hand macht man das gern – die Kinder, die da gerade Platz genommen haben. Mit verklebtem Fingerchen deutet ein Bub gen Museum. „Was ist das?“ Ja, was ist denn das? Wer herantritt, erkennt es. Quadrate, mit Stoff überzogen. Es sind die Kostüme der Passion 2000 und 2010. Hunderte, an die 1000. Jede Platte für sich ein Kunstwerk, das auch gekauft werden kann (siehe Kasten). Von fünf Künstlerinnen und Künstlern aus der Region zusammengefügt zu einer Installation, die die Blicke auf sich zieht.
Christo trifft Christi: An diesem Gebäude kann man nicht mehr achtlos vorbeigehen, es zieht einen hinein. Auch wegen der Seile, die die Fassade entlang gen Eingang hängen. Die hat Klaus Vogt gefertigt. Seit 22 Jahren sammelt der Oberammergauer Künstler Haare, die die Schauspieler nach Ende der Passionsspielzeit endlich abschneiden dürfen, verfilzt sie zu Stricken – und schafft so symbolträchtige Werke. Eine haarige Sache. Denn das hat was Gruseliges, auch Abstoßendes. Haare wachsen nach dem Tod noch ein wenig weiter; in ihren Wurzeln steckt die gesamte DNA eines Menschen. Abgeschnittene Haare, da ist man gedanklich aber auch schnell bei Konzentrationslagern, geschorenen Köpfen, Grausamkeit. Beim Leid, der Passion.
Werner weiß um die Wirkung, die das auf die Besucher haben kann, und setzt Vogts Werk, das die DNA eines ganzen Dorfes symbolisch verweben soll, dezent in der Ausstellung ein. Wie ein roter Faden leitet der haarige Strick einen durch die Räume, schlängelt sich an den Wänden, der Decke entlang, verwandelt seine Form mal in die eines DNA-Stranges, mal in einen Schriftzug: „Wir sind verbunden“ heißt es dann.
Mit Worten hält sich die Schau darüber hinaus zurück. Nur je ein Spruch pro Raum, ansonsten soll allein die Kunst auf die Menschen wirken (einen Flyer mit Informationen gibt es an der Kasse). Im ersten Geschoss ein Geisterzimmer. Vitrinen, Kommoden, Wanduhr sind eingehüllt in weiße Futterstoffe, ebenfalls Reste aus der Nähwerkstatt des Passionstheaters. Doch vereinzelt klaffen Löcher darin, geben den Blick frei auf filigrane Holzschnitzarbeiten. Die anderen erahnt man von Ferne durch den schimmernden Stoff, der die Vitrine umhüllt. Und wird automatisch angelockt, will genauer mit den Augen erfassen. Ein Ticken im Hintergrund. Memento mori.
Mit diesen Tricks, mit diesem Spiel von Sichtbarkeit und Verhüllung gelingt es Werner, dass auch, wer mit Kunsthandwerk bis dahin gar nichts am Hut hatte, plötzlich gebannt davor steht. Einen Raum weiter wird die Verhüllung auf die Spitze getrieben, werden die Heiligenfiguren zu Mumien. Und wirken, so in Einheitskluft gewickelt, wie eine graue Masse. Da wird es sichtbar: Wir Individualisten sind doch am Ende alle gleich. Uns einen unsere Gefühle. Trauer, Wut, Leid, Glück. Egal, in welchem Jahrhundert wir geboren wurden. Besonders eindrucksvoll zeigt das die Zusammenfügung von blutendem Christus, Anfang des 19. Jahrhunderts in Fichte gefasst, und Hermann Bigelmayrs „Blutstropfen“ aus Lindenholz, von 2014.
Alles läuft auf den letzten Raum zu, wo die Erlösung wartet. Jeder erspüre selbst, was da vor sich geht. Und stolpere danach wieder hinaus, gen Bahnhof, zurück in die große Stadt. Erfüllt von Bergluft – und einer Schau, die lange nachwirkt.
Bis 16. Oktober,
Dorfstraße 8, Oberammergau, weitere Infos: oberammergaumuseum.de