Sie sind ja selbst schuld. Ohne eindeutige Zweideutigkeiten kann ein neues Rammstein-Album nicht auf den Markt. Oder es landet gleich auf dem Index wie 2009 die sechste Scheibe „Liebe ist für alle da“. Provokationen wie Riefenstahl-Zitate („Stripped“), brennende Puppen, Song-Premieren auf Erotikportalen boten immer wieder Zündstoff für Empörung. Zuletzt erhitzte „Deutschland“ (2019) die Gemüter. Da sah man Lindemann und Co. als KZ-Häftlinge mit Judenstern und Rosa Winkel kurz vor der Hinrichtung am Galgen. Kritiker warfen der Band vor, sie betreibe Werbung auf Kosten ermordeter Juden. Es heißt, das solle bei den sonst über Aufregung lachenden Musikern große Nachdenklichkeit bewirkt haben.
Jetzt ist es Zeit für „Zeit“. So lautet der Titel des achten Studioalbums von Sänger Till Lindemann, Gitarrist Richard Kruspe, Keyboarder Christian Lorenz, Drummer Christoph Schneider, Bassist Oliver Riedel und Gitarrist Paul Landers. Und enttäuscht zunächst die antrainierte Erwartungshaltung auf den nächsten Skandal. Denn auch wenn „Zick Zack“ herrlich böse den Schönheitswahn kommentiert („Botox rein bis in das Gehirn“), reicht es doch nicht zum gesamtgesellschaftlichen Aufschrei.
Dafür kommt der Fan auf seine Kosten: Die elf Songs sind eine Rammstein-Reise zurück zu den Wurzeln. Musikalisch bedeutet das gewohnt harte bis brachiale Gitarrenriffs, gern nach sanftem Intro, mächtiges Schlagzeug und harte Beats, Chorgesänge, markante, fast hymnische Synthesizerabfolgen, eingängige Refrains und Lindemanns satte Stimme, die wunderbar zwischen samtener Verführung und diabolischem Wahnsinn pendeln kann. Klar, das tiefgerollte teutonische „Rrr“ darf nicht fehlen.
Der Albumtitel „Zeit“ gibt den inhaltlichen Tenor vor: Der gleichnamige Song ist von nahezu ironiefreier Wehmut geprägt – und enthält lyrische Zeilen wie „Augenblick verweile doch, ich bin noch nicht bereit“ in Anlehnung an Goethes „Faust“. Der Song „Zick Zack“ nähert sich dem Thema Vergänglichkeit wieder auf satirische Art. Wogegen die „Armee der Tristen“ die saturierte und zugleich pessimistische Wohlstandsgesellschaft einlädt, im „Gleichschritt gegen das Glück“ zu marschieren: „Reih’ dich ein, wir wollen zusammen traurig sein.“ Andere Themen sind konsequent Rammstein-gesellschaftkritisch: Inzest („Meine Tränen“), Sexismus („Ohne Kondom“), Spießbürgertum („Lügen“) oder Rassismus („Angst“).
Sorge könnte Fans das letzte Lied „Adieu“ bereiten. Manche Zeile klingt nach angekündigtem Abschied, „sogar die Sonne wird verglühn“ wäre durchaus als Anspielung auf den 20 Jahre alten Hit „Sonne“ interpretierbar. Was zu schade wäre – oder ein fulminanter Abschluss einer einzigartigen Karriere.
Rammstein:
„Zeit“ (Universal).