Das Fest ist ausgefeiert, und die einsame Insel, von der er so sehr geträumt hat, sieht nun so ausgeräumt aus wie die Bühne von Viktor Reim: zertretene Luftschlangen und verbrannte Konfettischnipsel auf dem Boden eines gammelschwarzen, leeren Tanzsaals. Und während tosender Premierenapplaus durchs Münchner Volkstheater brandet, bleibt in diesem uferlosen Un-Raum zwischen dem So-tun und dem Als-ob auch ein schaler Nachgeschmack wie nach einer stürmischen Nacht ohne Morgen.
Nein, wir haben es bei Janek Maudrich nicht mit Georg Büchners haltlosem Melancholiker Leonce zu tun, sondern mit Molières störrischem Spielverderber Alceste. Aber die Tatsache, dass Regisseur Philipp Arnold, Jahrgang 1990, Molière (1622-1673) so spielen lässt wie Büchner (1813-1837), spricht Bände. Die Geister, die gekommen waren, um ihr mit Tanz, Spiel, Zauberei und Liebelei die Zeit zu vertreiben, haben sich in den Nebel zurückgezogen und rufen der resignierten Gestalt im Zwielicht nun mit dem Achtzigerjahre-Hit „Voyage, voyage“ ironisch zu weiterzureisen, jenseits von Tag und Nacht, „in den Raum, den die Liebe nicht kennt“.
Denn: Die Gesellschaft all der ungeliebten Menschen gegen die einer einzigen Geliebten einzutauschen war Alcestes Plan. Célimène aber ist nicht bereit, das Opfer à la „nur Sie und ich allein zu zweit“ für ihn zu bringen. Also bitte, ich bin erst 20, scheint Anne Stein mit jedem süßen Schmunzeln, jedem verschmitzten Augenaufschlag zu sagen, ich darf mich amüsieren. Ein schwebender Zustand zwischen Wachen und Träumen führt diesen Theaterabend durch seine gut 100 Minuten. Unheilsschwingende Synthesizer-Geigen, undeutbare Lichtwechsel (je nach Gefühlszuständen, Tageszeiten?) und eine spröde Trockeneisromantik tragen dabei zwar richtig dick auf. Sie bewahren die verschworene Zusammenkunft der Bohème-Clique in Abendgarderobe aber auch vor dem Zerfleddern in ihre von Jürgen Gosch und Wolfgang Wiens so lustvoll zeitgenössisch nachgereimten Einzelteile. Der Vorteil der Versform: Es gibt keinen Satz, den die acht Schauspielerinnen und Schauspieler nicht mit Genuss und Nachdruck, Augenzwinkern und Doppelbödigkeit auskosten. Sind sie gerade nicht in die spontanen Darbietungen im Tanzsaal involviert, nehmen sie in der ersten Reihe des Zuschauerraums Platz: unsichtbar, und doch ist ihre Präsenz als Teil des Publikums stets spürbar.
Wessen Seite gilt es hier zu verteidigen? Die des Lästerduos Clitandre und Acaste, zu dem sich auch die verführerische junge Witwe Célimène gesellt? Oder die des sturen Dichters Alceste, der sich aus Prinzip schon gegen den Strom der Menge stellt? Am Ende braucht es gar keine Parteinahme, weil in diesem seit 1666 über die unvernünftige Fehlbarkeit des Menschen lachenden Charakterstück Molières doch jeder ungezügelt und allein schon deshalb auch mal heuchlerisch agiert, während er über die anderen den Kopf schüttelt. „Hä?“ – „Hä?“: Das ist der wohl aufrichtigste Dialog der Inszenierung. Die Wahrheit nämlich, nach der Alceste strebt, liegt definitiv jenseits der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Das ist heute weder tragisch noch lächerlich. Und so steht es fürs junge Münchner Volkstheater, dass der „Menschenfeind“ von Hausregisseur Philipp Arnold vor allem auch den Leichtmut der Jugend feiert. Denn, bei aller Melancholie: Das Leben ist einfach zu lang, um es zu früh mit Ernst, Qual oder Wahl zu verderben.
Nächste Vorstellungen
am 3., 9., 16. und 23. Mai; www.muenchner- volkstheater.de.