Ein normaler Konzertzyklus ist das längst nicht mehr. Wenn Rudolf Buchbinder im Prinzregententheater Beethovens Sonaten spielt, dann ist das zum lieb gewonnenen Ritual geworden – auch weil der 75-jährige Wiener dank lebenslanger Auseinandersetzung Authentisches verströmt. Am 8. Mai ist es wieder so weit. Zugleich steht Buchbinder, künstlerischer Leiter des Festivals im niederösterreichischen Grafenegg, endlich wieder vor einem normalen Festspielsommer.
Haben Sie ein Notizbuch, in dem steht, wie häufig Sie welche Beethoven- Sonate gespielt haben?
Ja. Und sicherlich habe ich die „Appassionata“ am häufigsten gespielt – für Beethoven war das auch die größte Sonate. Bei meinen Zyklen bin ich ein absoluter Gegner von chronologischer Vorgehensweise. Ich bin kein Oberlehrer. Außerdem finde ich es fürs Publikum uninteressant, zum Beispiel die ersten drei Sonaten zusammenzuspannen. Es ist doch viel wichtiger, Gegensätze und Perioden zu verdeutlichen. Einzige Ausnahme ist immer der letzte Abend mit den letzten drei Sonaten. Die gehören irgendwie zusammen – auch wenn sie nicht das Geringste miteinander zu tun haben.
Sie haben die Sonaten über 60 Mal zyklisch aufgeführt. Haben Sie das Gefühl, man kann dabei irgendwann an ein Ende kommen?
Ich weiß es nicht. Ich denke nie an ein Ende, übrigens auch nicht an Vergangenes. Ich denke immer nach vorne, bin dabei Optimist und positiv.
Wie hat sich Ihr Beethoven-Bild verändert, seitdem Sie die Sonaten erstmals gespielt haben?
Dazu gibt es eine Geschichte. 30 Jahre nach meiner ersten Einspielung der Sonaten sagte Joachim Kaiser zu mir: „Rudi, du muss sie wieder aufnehmen.“ Darauf ich: „Um Himmels willen, warum?“ Da meinte er: „Jetzt bist du frei.“ Mit der Zeit liest man viel mehr zwischen den Zeilen. Als Jugendlicher ist man ja vollkommen unflexibel, intolerant und engstirnig. Wir waren früher teilweise entsetzt über den Cellisten Pablo Casals, welche Freiheiten er sich beim Rubato, also bei den Tempowechseln, herausnahm. Das trauen wir uns heute gar nicht mehr.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie dem jungen Rudolf Buchbinder in früheren Aufnahmen begegnen?
Da muss man unterscheiden. Meine ersten Beethoven-Sonaten sind mir zu puritanisch. Viel zu schwarz-weiß gedacht. Akribie war wichtig, alles nach Vorschrift. Das bin nicht ich. Andererseits: Auf meiner Homepage ist zu hören, wie ich eine Chopin-Etüde spiele – als Achtjähriger, mit einem falschen Ton am Ende. Der stört mich nicht. Schon Beethoven meinte: „Eine falsche Note zu spielen ist unwichtig, aber ohne Leidenschaft zu spielen ist unverzeihlich!“ Andererseits erschrecke ich mich jedes Mal, wie instinktiv richtig man als Kind spielt. Diese musikalische Spontaneität sollte man nie verlieren. Je älter ich werde, desto nervöser werde ich.
Wie stark ist Beethoven als Mensch spürbar in den Sonaten? Oder kann man Werk und Charakter hier trennen?
Seine Gemütszustände sind sehr stark spürbar: wann er verliebt oder wehmütig war, wann er humoristisch gelaunt war, wann er jemanden verspotten wollte. Bei Es-Dur wird er immer extrem romantisch. Einer seiner schönsten Schlüsse ist das Ende der Es-Dur-Sonate Opus 7. Ein unglaublicher Abschied.
Harnoncourt sagte stets, bei Bruckner muss man die Berge und Täler Österreichs kennen, um die Werke zu verstehen. Gibt es Ähnliches bei Beethoven?
Er ist nächtelang spaziert im Wienerwald und hat sich sehr von der Natur beeinflussen lassen. Und dies gepaart mit seiner jeweiligen Verfassung. Er war ein Mensch, der sich sein Leben lang nach Liebe und Wärme sehnte.
Seit 2007 sind Sie künstlerischer Leiter in Grafenegg. Wie geht es dem Festival nach zwei Pandemie-Jahren?
Wir konnten ja zumindest im vergangenen Jahr einiges durchführen, indem wir ausschließlich Orchester, Künstlerinnen und Künstler aus Österreich eingeladen hatten, darunter Anna Netrebko, die bekanntlich bei uns wohnt. Ich hatte nie auch nur ansatzweise Angst um den Fortbestand des Festivals.
Apropos russischstämmige Kunstschaffende: 2022 war auch Valery Gergiev als Gast vorgesehen. Wie selbstverständlich war für Sie eine Ausladung?
Diese ganze Problematik tut mir sehr weh. Ich schätze ihn als einen genialen Dirigenten. Seine politische Einstellung ist natürlich sehr fragwürdig. Man darf aber eines nicht vergessen: Er hat in Russland 3000 Angestellte unter sich und ist verantwortlich für sie. Was jetzt passiert, ist eine Tragödie für die gesamte Kulturwelt, weil uns die russische Kultur doch so nahesteht. Es wird Jahre dauern, bis wir diesen Zustand überwunden haben. Es ist unglaublich, wie viel Kulturbewusstsein in diesem Land ist, auch wenn ich allein ans Publikum denke. Da ist über Nacht etwas kaputtgegangen.
Künstlerinnen und Künstler aus Russland müssen sich immer mehr rechtfertigen…
…was mich am meisten stört, ist, dass London oder Madrid das Bolschoi-Ballett ausgeladen haben. Was können diese 17-, 18-jährigen Mädchen und Burschen für die politische Situation? Man darf doch nicht alles vereinheitlichen, verallgemeinern und in einen Topf werfen. Diese Blödheit artet ja so weit aus, dass manche Kulturinstitutionen keinen Tschaikowsky mehr spielen. Diese Situation muss sich ändern.
Das Gespräch führte Markus Thiel.
Konzert
am 8. Mai, 11 Uhr, im Prinzregententheater; Telefon 089/811 61 91; Informationen zum Festival in Grafenegg unter
www.grafenegg.com.