Kutsche ins Glück

von Redaktion

Der neue „Rosenkavalier“ der Bayerischen Staatsoper erstmals vor Publikum

VON MARKUS THIEL

Die Litanei von den Absagen ums böse C-Wort will keiner mehr hören. Aber vor 14 Monaten, als die Bayerische Staatsoper mit ihrem neuen „Rosenkavalier“ aufwarten wollte, mit der Neubefragung eines Münchner Filetstücks, das 50 Jahre lang in einer legendären Inszenierung funkeln durfte, da musste wenige Tage vor der Premiere die Reißleine gezogen worden: Geistervorstellung, alles nur per Internet erlebbar – der Richard-Strauss-GAU.

Und jetzt? Sitzen und stehen (der Saal ist nicht ganz ausverkauft) da knapp 2000 Ausgehungerte, bejubeln schon das Ende des ersten Akts. Und brechen, als die von Bühnenbilder Rufus Didwiszus entworfene Kutsche wie aus der Remise von Ludwig II. hereinfährt – eine Barock-Apotheose, ein Theatercoup – in Spontanapplaus aus. So wie in den vergangenen Jahrzehnten, als in Jürgen Roses Ausstattung stets die Amalienburg-Nachbildung entzückte. Spätestens jetzt spürt man: Barrie Koskys „Rosenkavalier“ ist endlich angekommen – und könnte wie der Vorgänger zum Longseller werden.

Es ist eine Binse, und trotzdem: Die imposanten Raumwirkungen, wie man sie jetzt erfahren kann, teilen sich übers Internet nur rudimentär mit. Zum Beispiel die Bildergalerie des zweiten Akts – alles an Geilheit, was die Kunstgeschichte hergibt. Überhaupt ist der Abend ein hochvirtuoses Spiel mit Zitaten und Versatzstücken, vor allem mit der Realität. Kosky nimmt die Künstlichkeit des Stücks beim Wort. Schon Strauss und Textdichter Hugo von Hofmannsthal beschworen ja ein fiktives Maria-Theresia-Zeitalter herauf mit Ritualen, die es nie gab.

Das Spiel um Schein, Sein, um Identitäten und (Selbst-) Wahrnehmung treibt Kosky auf die Spitze und ins Surreale. Eine mal melancholische, mal ins Karikaturenhafte überdrehte Meditation über Zeit und Vergänglichkeit entspinnt sich hier. Eine Standuhr ist die klammernde Chiffre. Auf ihrem Pendel sitzt irgendwann die grübelnde Marschallin, und am Ende fährt das Möbelstück mitsamt dem stummen, stets präsenten, uralten Amor in den Bühnenboden. Jeder Akt ist Wille und Vorstellung einer Hauptfigur: vom silberkalten Salon der Marschallin mit seinen verschiebbaren Kulissen über Sophies Bett in der Galerie ihres Vaters bis zum Theater auf dem Theater, in dem Baron Ochs emotional entblößt wird, die Personenregie bis zur Farce heiß läuft, auf dass am Ende alles nach hinten fährt und nur noch reine Melancholie nebst Himmelfahrt von Sophie und Octavian bleibt. Kitsch? Unbedingt!

Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski, der für den Stream nur eine reduzierte Besetzung dirigieren durfte, liefert dazu die Kontrastwirkungen. Streng und schnell ist sein „Rosenkavalier“, souverän organisiert, mit wissend modellierten Mini-Episoden, aber eben nie kulinarisch. Strauss auf Halbfettstufe, was gesund fürs Stück ist, auch wenn man hie und da doch gerne genascht hätte.

Neu im Ensemble ist Liv Redpath als selbstbewusste, so feinlyrische bis vokal zupackende Sophie. Marlis Petersen bei ihren Marschallin-Meditationen zu lauschen, ist ein Fest der gedanklichen Intensität und Gesangstechnik. Samantha Hankey agiert als Octavian freier als in der Stream-Premiere, schöpft aus dem reichen Nuancenvorrat ihres Mezzos. Christof Fischesser als Ochs, der Unsicherheit mit Hyperaktion tarnt, ist ein Kabinettstück der besonderen Art. Das Strauss’sche Parlando glückt ihm vorzüglich, auch wenn die Stimme zuweilen etwas weggeblendet wirkt. Dazu gibt es herrliche Charakterstudien, die viel über den begnadeten Motivator Kosky verraten: Johannes Martin Kränzle zum Beispiel als hyperbeflissener Faninal, Ursula Hesse von den Steinen als Annina-Vamp oder Galeano Salas (Ein Sänger) in seiner kurzen, meisterhaft vorgetragenen Arie als Farinelli-Wiedergänger. Auf wundersame Weise hält Kosky vieles in der Balance. Dieser „Rosenkavalier“ jongliert mit Klischee und Distanz, mit turbohaft ausgespielten Details und der Reflexion über Stück und (Werk-) Geschichte. Wer noch immer Trauer trug über die Entsorgung der alten Produktion, bekommt eine Überdosis Trost, sollte aber die Taschentücher in Griffweite behalten. Sie werden an diesem Abend gebraucht.

Weitere Vorstellungen

am 11. und 15. Mai sowie

am 21. und 24. Juli;

Telefon 089/21 85 19 20.

Spiel mit Zitaten,

Versatzstücken und der Realität

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