Er sitzt im Zug von Mainz Richtung Berlin. Das Podiumsgespräch des angehenden Schriftstellers verlief erfolgreich, nun geht es heim zu Frau und Sohn. Da erreicht ihn die Nachricht, dass seine Mutter im Sterben liegt – in Bagdad. Said Al-Wahid steigt bei der nächsten Gelegenheit aus, um eine Verbindung zum Frankfurter Flughafen zu bekommen. Sein Bruder Hakim hat es sehr dringend gemacht.
Abbas Khider, Jahrgang 1973, legt mit dem gerade erschienenen „Erinnerungsfälscher“ einen schmalen Roman vor, der sich jedoch beim Lesen weit ausdehnt. Dieses Ziehharmonika-Phänomen spiegelt das Empfinden der Hauptperson Said, dass diese sich eigentlich an nichts aus seiner Vergangenheit so recht erinnern kann, und seine Kunst, unglaublich vielschichtig zu erzählen.
Die Erinnerung ist die Mutter des Erzählens genauso wie der Bauplan der Identität eines Individuums. Indem Said, der einst aus der Diktatur geflohene Iraker und der nun kreativ tätige Deutsche, sich ans Erinnern erinnert, es umkreist, es sorgenvoll vermisst, erinnert er sich. Egal, ob tatsächlich oder „gefälscht“. Die innere Wahrhaftigkeit überzeugt. Genauso wenig wie eine Künstlerpersönlichkeit lügt, wenn sie etwas erfindet, genauso wenig fälscht Said. Klar und wirkungsvoll verzahnt Khider die Episoden aus Said Al-Wahids Flucht von Amman bis München, die bizarren Szenen aus der deutschen Bürokratie-Hölle mit der wahren Hölle im Irak. Saids Vater hat Saddam Husseins Terror nicht überlebt, und er selbst diesen nur knapp. Seine Schwester und ihre Familie wurden beim Bombenanschlag eines Islamisten im Bürgerkrieg zerfetzt. Und als Said 2014 – Deutschland freut sich auf die Fußball-WM – zur sterbenden Mutter nach Bagdad hetzt, ist die Stadt immer noch im Würgegriff rivalisierender Milizen. Zum Abschied erzählt ihm Hakim von einer neuen Truppe dieser Art, „Daesh“ genannt, die gerade Mossul eingenommen hat und gern köpft…
„Der Erinnerungsfälscher“ ist ein Roman, den jede und jeder lesen sollte. Ein so aktuelles wie zeitloses Werk über Liebe und Herzenskälte, gesprengte Klischees und allzu reale, über Geschichte und Gegenwart, Lebensmut und die Kunst, die am Leben erhält. In seiner Kürze ist das Buch obendrein perfekt als Schullektüre.
Abbas Khider:
„Der Erinnerungsfälscher“. Carl Hanser Verlag, München, 126 Seiten; 19 Euro.
Lesung: Abbas Khider stellt sein Buch am 22. Juni, 20 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten 01806/70 07 33 oder unter literaturhaus-muenchen.reservix.de. Zu dieser Veranstaltung gibt es keinen Livestream.