Eine Frage der Existenz

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Die Wiener Staatsoper zeigt Claudio Monteverdis „L’Orfeo“

VON MARKUS THIEL

Möglicherweise war der Tag einfach heftig für Caronte. Zu viele Tote, zu viele arme Seelen über den Fluss Richtung Hades gerudert. Denn von diesem Gesang schläft man nicht einfach ein. Der ist weniger Ohrenschmeicheln, sondern harte Argumentation. Warum Orfeo unbedingt seine Euridice aus der Unterwelt holen muss, warum der Tod der Geliebten für den antiken Sänger nicht nur eine traurige, sondern eine inakzeptable Angelegenheit ist, das bekommt Caronte, das bekommen wir alle hier überdeutlich zu hören.

So singt nämlich Georg Nigl den Titelhelden. Weniger als melancholieumflorten Belcanto, sondern als existenzielle, harte Erfahrung. Als (auch vokalen) Grenzgang. Als Entäußerung zwischen Zärteln und hochexpressiver Klangrhetorik. Unendlich viele Abstufungen gibt es in dieser grandiosen Rollenerfüllung, von gehauchter Verzweiflung bis zur Wut, in die sich Selbstmitleid mischt. Auch wenn es diesem Mann nichts nützt. Das Paar genießt zwar, auf Geheiß von Apollo, eine Himmelfahrt, doch noch immer liegt da eine leblose Frau in Orfeos Schoß. Blackout, Jubel, Standing Ovations: Die Wiener Staatsoper als Hort des Frühbarock?

Vieles wird dort gerade unter Bogdan Roščić, Intendant seit 2020, neu erfunden. Vor einem Jahr startete man mit der „Poppea“ einen Monteverdi-Zyklus – und verbannte dafür das hehre Staatsopernorchester, das immerhin die Wiener Philharmoniker bestückt, aus dem Graben. Stattdessen sitzt dort, auch bei der Premiere von „L’Orfeo“, der Concentus Musicus. Jenes Leib- und Magenensemble von Nikolaus Harnoncourt also, das sich nach dessem Tod 2016 deutlich verjüngt hat. Eigentlich wird es vom Harnoncourt-Schüler Stefan Gottfried geleitet, die Wiener Staatsoper buchte für Monteverdi Pablo Heras-Casado.

Der darf zu Trommelklang in die Staatsoper einziehen, bevor die Intrada von „L’Orfeo“ das Haus beschallt. Ortsangemessen lässt Heras-Casado die Partitur vom stark besetzten Concentus saftig, farbig und plastisch ausspielen. Viele Details und manch Zugespitztes gibt es zu hören, doch es überwiegt die große Geste. Wie anders sollte es auch sein: Intimes, Filigranes, wie es bei der Uraufführung im Fürstenpalast zu Mantua möglich war, hätte sich im Wiener Haus versendet.

Bei Tom Morris, Regisseur, Dramatiker, Schauspieler, Journalist und Intendant des Old Vic in Bristol, beginnt das Stück als Hochzeitsparty im Parkett. Staatsopern-Touris dürfen sich mit Choristen knipsen, bis die SIM-Karten der Handys heißlaufen. Theater total. Orfeo und Euridice mahnen aus Lautsprechern, sicherheitshalber Masken aufzusetzen, kaum einer tut’s. Morris und Anna Fleischle (Ausstattung) lassen alles so spielen, als werde da eine 70er-Jahre-Inszenierung reanimiert. Ein bisschen Flower-Power, etwas Eso, ein Shakespeare-Wald, der für den „Sommernachtstraum“ taugt, zu den Unterweltszenen fährt alles nach oben und gibt ein Wurzelgeflecht frei. Man würde sich nicht wundern, wenn es plötzlich nach Marihuana riecht.

Und immer mehr öffnet sich eine Schere, zwischen Regie-Harmlosigkeit und dem Elementaren, das die Musik verhandelt. Die großartige Kate Lindsey in der Dreifachrolle Musik/Hoffnung/Echo wird zur eigentlichen Gefährtin Orfeos. Kassandra und Spielmacherin ist sie, eine (auch stimmlich) geheimnisvolle, rätselhafte Göttin. Slávka Zámečníková singt eine zartbittere Euridice, auch das übrige Ensemble bis zum schwarz orgelnden Andrea Mastroni als Pluto fühlt sich gut ein in diesen Stil.

Doch der Abend lebt von der Aura Lindseys und Nigls. Die letzten, uns alle betreffenden Dinge springen uns an aus ihrem Gesang. Bis irgendwann die Frage auftaucht: Ob sich die Oper seit 1607 nennenswert weiterentwickelt hat? Alles, was sie ausmacht, enthält „L’Orfeo“ doch in nuce. Man muss es nur klanglich so formulieren können wie hier.

Weitere Vorstellungen

am 16. und 18. Juni sowie wieder im Oktober; Telefon 0043/1/513 15 13.

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