Wir nehmen uns die Freiheit

von Redaktion

Das Künstlerkollektiv Ruangrupa aus Jakarta mischt die Kasseler documenta fifteen auf

VON SANDRA DANICKE

Dass hier nichts so sein würde wie bei den vorherigen 14 documentas, war klar. Ruangrupa hatten von Anfang an deutlich gemacht, dass ihre Auffassung von Kunst eine völlig andere ist, als wir sie im Westen verinnerlicht haben. Das auratische Werk, die hehre Künstlerfigur spielt für das Kollektiv aus Jakarta allenfalls eine Nebenrolle. Der im Kern zehnköpfigen Gruppe aus Künstlerinnen, Künstlern und Kreativen aus Jakarta geht es nicht um Produkte, sondern um Kooperationen, um eine – stets ergebnisoffene – Reise, bei der man gemeinschaftlich Modelle für die Zukunft entwirft und Fragen der Gegenwart erörtert. Ressourcenverteilung, Klimawandel, Geschlechtergrenzen, koloniale und postkoloniale Strukturen – das ganze Programm.

Ruangrupa und die von ihnen eingeladenen Kreativen tun dies nicht verbissen, sondern humorvoll, spielerisch, bisweilen albern, während man gemeinsam abhängt und diskutiert, Besitz und Fähigkeiten miteinander teilt. So weit die Theorie. Eine schöne Theorie, die unser bisheriges Denken – soweit es die Kunstwelt betrifft – gründlich auf den Kopf stellt. Die Qualität einer Ausstellung – noch dazu der wichtigsten Kunstausstellung der Welt – wurde bisher stets vor allem an ihren Hervorbringungen gemessen. Und das sind im Wesentlichen Skulpturen, Objekte, Bilder, Filme, gelegentlich auch mal ein Garten.

Bei der documenta fifteen gibt es all das tatsächlich auch. Es wird aber in den meisten Fällen nicht so wichtig genommen. Wichtig ist der Prozess, das Erlebnis, aber auch der Hintergrund der Entstehung. Wer Bilder, Filme, Installationen nach ihrer ästhetischen Qualität, nach ihrem inhaltlichen Mehrwert beurteilt, kommt hier nicht weit. Sie hätten nicht groß darüber nachgedacht, eine fertige Ausstellung abzuliefern, sagte Ruangrupa-Mitglied Ade Darmawan bei der Pressekonferenz, sie hätten vor allem an die Zukunft gedacht. „Wie können wir über die documenta hinausgehen? Was können wir an verschiedene Orte zurückführen?“

Die documenta ist für Ruangrupa eine Art Katalysator, der etwas in Gang setzt. Weil ihnen Themen wie Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit zentraler erscheinen als Werke mit einer Aura. Künstlerische Freiheit nehmen sie sich – mit allen Konsequenzen. Die Logik der aktuellen documenta ist die der Schwarmintelligenz: ein Kollektiv, das Kollektive einlädt, die wiederum mit Gruppen zusammenarbeiten und auf diese Weise Wissen und Erfahrung akkumulieren.

Dass Kunst nicht dazu da ist, der Erquickung zu dienen, dass sie kein ästhetischer Selbstzweck ist, sondern in die Gesellschaft hineinwirkt, womöglich sogar innerhalb einer Gesellschaft entsteht, ist natürlich auch in Deutschland kein neuer Gedanke. Die Radikalität, mit der Ruangrupa dieses Konzept verfolgen, an einem Ort, der nicht nur im Fokus eingeweihter Kunstnerds steht, sondern Touristen aus aller Welt anlockt, ist allerdings bemerkenswert.

Informationen:

Die documenta fifteen ist ab diesem Wochenende für Besucher geöffnet und läuft bis 25. September; Details zum Vorverkauf und den Öffnungszeiten unter documenta-fifteen.de.

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