Am Rande des Abgrunds

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Mit Verdis „La traviata“ begannen die Festspiele auf Gut Immling

VON TOBIAS HELL

Starke Frauen verspricht das Opernfestivals auf Gut Immling in diesem Sommer. Mit Violetta, Norma und Cio-Cio San dominieren gleich drei tragische Heldinnen das Programm. Obwohl an erster Stelle eigentlich vor allem eine Dame genannt werden müsste, die seit 20 Jahren das musikalische Profil maßgeblich prägt: Dirigentin Cornelia von Kerssenbrock hat hier ein überaus flexibles Orchester geformt, das sich in unterschiedlichen Epochen stilsicher zurechtfindet.

Die Kernkompetenz ist und bleibt aber das große italienische Repertoire. Und da vor allem Giuseppe Verdi. Seine „Traviata“ zählt natürlich auch in Immling zu den Dauerbrennern, wovon sich Kerssenbrock am umjubelten Eröffnungsabend allerdings nicht zur Routine verleiten lässt. Sie gestaltet die Partitur mit viel Feingefühl und gibt den intimen Momenten genügend Raum, zieht daneben aber in den großen Ballszenen das Tempo mächtig an und lädt zum Tanz am Rande der menschlichen Abgründe.

Dazu passt es, dass sich auch Regisseur Ludwig Baumann nach seiner traditionsbewussten „Butterfly“ aus dem Vorjahr diesmal wieder etwas mehr traut und beispielsweise das berüchtigte Trinklied als humorigen Karaoke-Auftritt ironisch bricht. Ebenso wie den ersten Auftritt Alfredos, der zu Beginn noch an der Gesichtskontrolle der Türsteher scheitert und erst eingelassen wird, als er sich in Sachen Outfit von Violettas „Freunden“ assimilieren lässt. Die Kurtisane selbst ist bei Baumann von Anfang an eine körperlich und seelisch gebrochene Frau, die ihre verbleibenden Kräfte lediglich für das Posieren vor den Kameras der Paparazzi mobilisiert und das hippe Pariser Partyvolk nur mit einer Prise Kokain erträgt. Da fällt es auch nicht ins Gewicht, dass bei Diana Alexe über den Koloraturen des „Sempre libera“ zunächst noch ein leichter Schleier zu liegen scheint. Denn ebenso wie das wahre Gesicht Violettas erst langsam durchscheint, vermag sich auch die Sopranistin im Laufe des Abends immer mehr zu steigern. Und wenn sie nach dem erzwungenen Ende ihrer Beziehung mit Alfredo zum „Dite alla giovine“ ansetzt, muss man schon wirklich komplett aus Stein sein, um nicht zumindest eine kleine Träne zu verdrücken.

Dass gerade diese Szene sich nachhaltig ins Gedächtnis gräbt, ist aber ebenso das Verdienst von Stefano Meo. Denn er untermauert mit Ehrfurcht gebietendem Bariton nicht nur die Autorität des sich querstellenden Schwiegervaters, sondern lässt mit feinster Belcanto-Technik spüren, dass er dabei vor allem aus fehlgeleiteter Sorge um seinen Nachwuchs handelt. Zum Glück weiß sich aber Jenish Ysmanov stimmlich sehr wohl gegen den Patriarchen zu behaupten. Der Immlinger Publikumsliebling feiert als Alfredo hier einen weiteren Triumph. Wobei sein geschmeidiger Tenor in der Mittellage noch weiter an Substanz gewonnen hat.

Homogen besetzt sind ebenfalls die Nebenrollen, aus denen unter anderem der Gaston von Sergiu Saplacan wie die darstellerisch präsente Flora von Patricia Osei-Kofi herausstechen.

Ein Bein stellt sich die dicht gearbeitete Produktion lediglich durch die schleppende Umbaupause vor dem zweiten Akt. Doch im Gegensatz zu den unsagbar zähen Eröffnungsreden, die man auch diesmal wieder über sich ergehen lassen musste, wurde der holprige Szenenwechsel immerhin noch charmant überbrückt. Dies sogar von der musikalischen Leiterin höchstpersönlich, die mit den Worten „Die brauchen zu lang! Spui ma no oans!“ zum Akkordeon griff und gemeinsam mit Mitgliedern des Orchesters drei tröstende Chansons anstimmte.

Weitere Vorstellungen

am 1., 9., 15., 29. Juli sowie am 13. August; Karten gibt es online unter

www.immling.de/spielplan-2022.

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