Genie des Welttheaters

von Redaktion

NACHRUF Der britische Regisseur und Bühnenzauberer Peter Brook ist mit 97 Jahren gestorben

VON SABINE DULTZ

„Der aufregendste Theatertod, den ich je sah, war auch der einfachste; in ,Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‘ spielte Yoshi Oida einen Mann, der sich hinkniet, um sich zu töten: Er nahm ein Tuch, bedeckte damit seinen Kopf – und war kein Wesen mehr.“ Das erzählt Dieter Dorn in seiner Autobiografie „Spielt weiter!“ über eine Inszenierung des großen Regisseurs Peter Brook, die 1993 als Gastspiel in München zu sehen war. Jetzt hat Brook die Regie über das Sterben in die Hände eines anderen, eines größeren Meisters gelegt. Der Tod höchstselbst hat ihn, dieses Genie des Welttheaters, im Alter von 97 Jahren abberufen von der Bühne des Lebens; nicht auf offener Szene, sondern im Stillen, bescheiden und ohne Pomp, unspektakulär. So, wie sich das ganze künstlerische Wirken Peter Brooks abgespielt hat.

Das Einfache, das schwer zu machen ist – das ist das Besondere, das Einmalige an der Theater-Lebens-Arbeit des Briten. „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist“, schreibt er 1968 in seinem Buch „Der leere Raum“, das bis heute als die Theaterbibel der Neuzeit erachtet wird.

Schon Peter Brooks Geburtsdatum enthält eine gewisse Symbolik – als beginne in der Stunde seines Erdendaseins bereits jene Zeit, von der an das Theater sich zu seiner schönsten Blüte entfalten würde: Es ist der 21. März 1925, Frühlingsanfang. Geboren wird Brook in London als Kind jüdischer Einwanderer aus Lettland. Von Anfang an zeigt er leidenschaftliches Interesse an allem Theatralischen. Seit seinem 20. Lebensjahr arbeitet er als Regisseur. Und sehr schnell avanciert er zu einem gefragten Mann. Er wird international berühmt, inszeniert Shakespeare, Sartre, Genet, Tschechow, Beckett, Handke und, und, und. Mit der Anti-Vietnam-Collage „US“, mit Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ und Peter Weiss’ „Marat/ Sade“ sowie „Die Ermittlung“ bekennt Brook sich zum politischen Theater.

Das sind die Sechzigerjahre. Ort der Handlung ist die Royal Shakespeare Company. Zu den Dramen gesellt sich mit Mozart und Bizet die Oper. Brook dreht Filme, schreibt Bücher, darunter die Autobiografie „Zeitfäden“, ist mit der Schauspielerin Natasha Parry verheiratet, befindet sich mit seiner Theatertruppe unterwegs in der Welt. Eine Reise führt sie durch die Sahara. Dort spielen sie den Wüstenbewohnern „Die Konferenz der Vögel“ vor, um herauszufinden, wie ein uralter, mythenhafter Stoff auf Menschen wirkt, die wohl uralte Geschichten, aber kein Theater kennen.

1970 – Brook ist 45 und hat in England künstlerisch alles erreicht – geht der Regisseur nach Frankreich. In Paris gründet er das Centre International de Recherche Théàtrale (CIRT), das heutige Théàtre des bouffes du Nord. Welttheater. Wer hier mitspielen kann und darf, wer bereit ist, sich einzulassen auf glamourfreies Künstlerdasein und darauf, in einem internationalen Kollektiv mitzuwirken, unternimmt eine Reise ins Innere des Theaters, und das heißt bei Brook immer ins Innere des Menschen. Es ist die Befreiung des Schauspielers vom Zwang, die Befreiung der einzelnen Figur, die Befreiung des Menschen. Der Schauspieler spielt keine Rollen, sondern begibt sich auf Entdeckungsreise in seine Rolle hinein.

Und wo ginge das besser als bei Shakespeare? Immer wieder Shakespeare. „Ein Mittsommernachtstraum“, 1970. Wer ihn sah, war überwältigt und wagte sich so bald nicht an eine eigene Inszenierung des Stücks: „Das war eine so vollkommene Aufführung in einer so neuen Ästhetik, dass ich damals glaubte, so etwas würde ich nie schaffen. Ich habe lange Zeit gebraucht, um mich von dieser Überrumpelung zu erholen. Mir war Peter Brook stets ein großes Vorbild“, bekennt Dieter Dorn, der 1978 dann doch seinen eigenen „Mittsommernachtstraum“ mit einigem Triumph an den Münchner Kammerspielen herausbrachte. Oder Brooks Aufführung des „Sturms“, 1968 und noch einmal 1990. So besonders und frei von jeglicher aufgesetzten Interpretation, weil, wie Brook sagt, dieses Spiel eine Spiegelung dessen ist, was in unserem Leben verborgen ist: Das „secret play“, das hinter Worten und Handlung steckt, das, was uns fehlt, zu dem der Schauspieler erst vordringen kann, wenn er sich befreit hat von allen Äußerlichkeiten.

„König Lear“ gehört natürlich in diese Reihe und, wie könnte es anders sein, „Hamlet“. 2002 gastiert Brook damit bei den Wiener Festwochen. Eine leere Halle, ein Teppich, ein Viereck aus Sand, ein paar Kissen – mehr benötigen er und das Ensemble nicht, um eine Welt von heute entstehen zu lassen. Unvergessen auch die Gastspiele in den Siebzigern und Achtzigern mit Alfred Jarrys „Ubu Roi“ und Bizets „Die Tragödie von Carmen“ in einer Halle in Geiselgasteig. Was nur war mit München los, dass diese einzigartige Welttruppe nicht mehr an der Isar Station machte? Das indische Epos „Mahabarata“ (1985) lockte in Paris, Berlin und anderswo Besuchermassen an. In München gab es damals wohl niemanden, der sich für Brook erfolgreich stark gemacht hätte. Oder man fürchtete die Größe dieser Kunst.

Die jüngste Arbeit Peter Brooks ist „The Prisoner“, herausgekommen 2018 in Paris, im Jahr 2019 zu sehen in Recklinghausen und in der Schweiz. Es ist das durch Inzucht und Mord der Antike entsprechende Märchen eines Mannes, der seine Strafe nicht hinter Mauern absitzt, sondern in freiwilliger Sühne vor dem Tor des Gefängnisses, und zwar so lange, bis er glaubt, durch seelische Läuterung seine Schuld abgetragen und die innere Freiheit erlangt zu haben. Man kann das als Paraphrase sehen – nicht nur auf die ewige Frage von Schuld und Sühne, sondern auch als ein Resümee des damals 94-Jährigen auf Leben und Tod.

Sein Buch „Der leere Raum“ ist eine Theaterbibel

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