Überraschend aktuell

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Die Kammerspiele erinnern mit „Pienes Regenbogen“ an Olympia 1972

VON ALEXANDER ALTMANN

Regenbogen oder nicht Regenbogen, das ist hier die Frage. Das Premierenpublikum jedenfalls stimmte am Ende mehrheitlich für den Regenbogen – exakt so wie das Team von Lichtkünstler Otto Piene vor 50 Jahren: Piene (1928-2014) hatte zur Abschlussfeier der Olympischen Spiele in München eine spektakuläre Installation vorbereitet, einen Riesenregenbogen, der im Nachthimmel über dem Olympiagelände leuchten sollte. Aber nach dem tödlichen Attentat auf die israelischen Athleten war natürlich unklar, ob so eine heiter-bunte Kunstaktion jetzt noch möglich und angemessen wäre.

Die Konferenz, in der Piene und seine Crew diese Frage am Tag nach dem Terror diskutierten, hat ein Mitarbeiter protokolliert, und an diesen Aufzeichnungen orientiert sich die Performance „Pienes Regenbogen“, die eher eine szenische Lesung ist: Die Münchner Kammerspiele lassen in Kooperation mit dem Kulturreferat zum 50-Jahre-Jubiläum der Wettkämpfe von München die Diskussion von damals quasi nachspielen (Text und Regie: Friedrich Klütsch, Joachim Puls). Noch dazu am historischen Ort, nämlich im Olympiapark, wo beim See neben dem Freilichtkino die „Regenbogenbaracke“ aufgebaut ist.

Nur mäßig abgeschirmt von dem Mix aus Parkidylle und Rummelplatz, den das Olympiagelände darstellt, nehmen hier sechs Schauspieler (vier Männer, zwei Frauen) mit Textbüchern Platz. Im Zentrum ihres Stuhlkreises steht altargleich vorn auf einem hohen Podest das graue Wählscheibentelefon, das in den Siebzigern Standard war – und an diesem Theaterabend als einziges, nur einmal benutztes Requisit doch sofort die nötige Retro-Stimmung erzeugt. Kräftig unterstützt wird es darin durch die ebenfalls grauen Schlaghosen, die einer der Akteure zum blauen Blazer trägt und die seinerzeit „todschick“ waren, aber heute geradezu abartig aussehen.

Solche Ikonen der Gestrigkeit sollen indes nicht nur die Atmosphäre von 1972 evozieren, sondern sie dienen auch als Kontrastmittel. Denn das, was die altmodisch kostümierten Akteure sagen, erweist sich als erstaunlich zeitlos, die Argumente, die sie vortragen, wären heute in vergleichbaren Situationen genau die gleichen: Pietät und Trauer gebieten es, nicht einfach weiterzumachen, meinen die einen und haben völlig Recht. Völlig Recht haben aber auch die anderen, die sagen, man müsse gerade jetzt weitermachen, um den Terroristen nicht die Regie über unser Leben zu überlassen.

Fast noch erschreckender, weil überraschend aktuell, erscheint dagegen, was einer der Diskutanten, gespielt vom großartigen Walter Hess, in einem Nebensatz erwähnt: Bei Olympia in Berlin 1936 wäre solch ein Terroranschlag nicht möglich gewesen, weil der NS-Staat für „lückenlose Überwachung“ stand. Wer die möchte, muss auf eine offene Gesellschaft und ein menschenwürdiges Leben verzichten. In Zeiten, da (digital verfeinerte) Kontrolle und staatliche Autorität plötzlich wieder en vogue sind, wirken solche Einsichten wichtiger denn je. Herzlicher Applaus.

Nächste Vorstellungen

am 6., 7., 8. und 9. Juli; Eintritt frei!

Das Publikum darf am Ende der Debatte abstimmen

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