Wem gebührt in der Oper der Vorrang? Der Musik? Oder doch dem Text? Um diese spitzfindige Frage dreht sich „Capriccio“, die letzte Oper von Richard Strauss. Das Stück, uraufgeführt 1942 in München, ist ein Schmerzenskind: Ursprünglich war Autor Stefan Zweig als Textdichter vorgesehen, doch noch mehrere andere schraubten daran herum, inklusive Strauss selbst. David Marton brachte die Oper vor neun Jahren in Lyon heraus. Am Sonntag hat seine Inszenierung im Rahmen der Münchner Opernfestspiele im Prinzregententheater Premiere.
Was sagt das über Richard Strauss aus, wenn er 1942, während die Welt zusammenbricht, ein Stück mit dieser Handlung schreibt?
Diese Frage stellt sich, so glaube ich, jeder, der sich mit dem Stück beschäftigt. Ich habe diese Inszenierung ja vor neun Jahren für Lyon konzipiert mit dem Gefühl, weit abseits von Strauss’ Heimat zu sein. Sie war für ein französisches Publikum gedacht und meine allererste Opern-Inszenierung. Ein Versuchsterrain. Ich wusste gar nicht, ob ich mit Oper weitermache. Insofern stand für mich anfangs nicht der Themenbereich „Strauss, München, 1942“ im Fokus. Ich lasse die Thematik sehr dezent in der Inszenierung aufscheinen. Natürlich könnte man denken, 1942 ein solches Stück herauszubringen, sei eine merkwürdige Form von Eskapismus eines alten Mannes. Viel verstörender für mich aber war seine Korrespondenz mit Stefan Zweig, der das Libretto hätte schreiben sollen. Strauss präsentiert sich da um 1933 als machtvoller, skrupelloser, ignoranter, inhumaner Mensch. Und da fragt man sich: Wie kann eine solche Musik aus diesem Menschen herauskommen? Das ist eine ganz grundsätzliche, sehr aktuelle Frage im Kunstbetrieb: Kann man von Künstlern und von Kunst generell einfordern, politisch oder menschlich korrekt zu sein?
War für Sie „Capriccio“ das richtige Einstiegsstück in die Opernwelt?
Ich glaube schon. Allerdings bin ich auf die Oper gar nicht zielstrebig zugerast. Ich habe im erweiterten Sinne Musiktheater gemacht, und deshalb interessierte mich auch die Oper. „Capriccio“ thematisiert ja den Opernbetrieb, insofern passte das. Außerdem fand ich es richtig, mit einem Stück anzufangen, das ich nicht ausgesprochen verehre. Weil es dadurch leichter wurde, den Betrieb zu hinterfragen. Diese Haltung ist wie ein Wasserzeichen hie und da in der Inszenierung zu sehen.
Sie haben, unter anderem auch an den Münchner Kammerspielen, Oper als Ausgangspunkt genommen für Übermalungen, Weitertreibungen, Neufassungen. Wie gingen Sie dann mit einer festgefügten Partitur wie „Capriccio“ um? Das muss doch wie ein Korsett gewesen sein.
Ich kam tatsächlich als Projektmacher zur Oper, formelle Freiheit war in diesen Projekten nichts, wofür man kämpfen musste. Vielmehr war die Aufgabe, aus der Freiheit eine Form zu schaffen. Aber vielleicht gerade deshalb fand ich die Beschäftigung mit diesem Korsett einer Partitur an dem Punkt interessant für mich. Rein persönlich gesehen bin ich damals vor zehn Jahren zu Beginn der Probenzeit mit Karacho ziemlich gegen die Wand gefahren. Ein Beispiel: Die erste „Capriccio“-Szene in meiner Inszenierung ist die Spiegelung zweier Menschen. Und ich dachte damals, man könnte auch mit Sängern einmal die klassische Spiegel-Übung machen – wie es Schauspielstudenten tun. Anstelle eines hochintellektuellen Konzeptgesprächs, so meinte ich, könnte man sich doch durch Selbstbeobachtung der Probenarbeit nähern. Ich bin damit total durchgefallen. In der Oper muss man sich früher festlegen als Regisseur als in der Arbeit mit Schauspielern. Beim Schauspiel sind die letzten Tage vor der Premiere wie eine Neugeburt der Produktion. Neue Energie wird frei. Das ist manchmal furchtbar, weil es anstrengt. Aber gerade diese Tage möchte man im Rückblick nicht mehr vergessen. Bei der Oper, die viel früher fertig sein muss, flaut die Energie Richtung Premiere eher ab. Es wird ordentlicher, abgeklärter, dadurch fehlt aber auch der Wahnsinn. Da geht man nach der Bühnenorchester-Probe dann gemütlich essen.
Wie sakrosankt ist für Sie das Werk? Inwieweit darf man eingreifen in eine fest gefügte Partitur?
Ob etwas heilig ist, diese Frage ist für mich irrelevant. Auch wenn ich ein Stück aufgebrochen oder anderes Material eingefügt habe. Mir ging es nie darum, ein Stück als Sakrileg anzugreifen. Ich wollte immer Musiktheater machen, in dem sich bestimmte Sinnlichkeiten in einem neuen Gewebe mischen. Sprache, Klang, Geräusch, Stille, unterschiedliche Musikstile. Der Versuch einer neuen Wahrnehmung von Wirklichkeit. Ich habe das nie in Opernhäusern gemacht, sondern meist in Schauspielhäusern, wo das Publikum sehr frei denkt. In unserem „Capriccio“ wird es nur die Stille geben als Aufbrechung. Aber ganz allgemein: Oper ist schwer aufzubrechen. Nicht nur, weil der Betrieb sich dem widersetzt. Die Stücke an sich sind so massiv, dass sie das Fremde erdrücken und ihm keinen Raum zur Entfaltung lassen. Wenn man in der Oper ein Werk wirklich als Material bearbeiten will, müsste man in einer komplett anderen Produktionsform arbeiten. Inzwischen denke ich aber, noch wichtiger wäre viel größeren Raum für neue Opernwerke und -formen zu ermöglichen – so schwer es auch ist, damit das Publikum zu erreichen. Und in dieser Hinsicht stelle ich in Opernhäusern und dem gesamten Klassikbetrieb einen unfassbaren Historizismus fest – und Angst.
Viele Häuser beklagen zurzeit die fehlende Nachfrage. Allenfalls bei Repertoire-Hits werden die Reihen einigermaßen voll. Führt das zur noch stärkeren Einengung des Repertoires? Zu einem neuen Biedermeier?
Ich bin da sehr pessimistisch. Corona und die damit verbundene Kulturpolitik wird unser Verständnis von der Wichtigkeit der Künste stark verändern. Alles wurde unterwaschen wie von einem Fluss. Es gab noch keinen Erdrutsch, aber er wird nach vielleicht einer Generation passieren. An sich fand ich die Corona-Zeit sehr interessant, weil sie das Denken auch geöffnet und Experimente möglich gemacht hat. Trotzdem: Oper und klassische Musik sind angezählt. Auch weil sich Neues kaum durchsetzt und wir zu reinen Reproduktionskünstlern geworden sind.
Das Gespräch führte Markus Thiel.