Am schönsten ist Bayreuth immer außerhalb der Festspiele. Valentin Schwarz kommt vom Parkplatz zum Festspielhaus heruntergeschlendert. Ansonsten verirrt sich an diesem Morgen noch kaum einer auf den Grünen Hügel. Überraschenderweise gibt es im Interviewraum keine Stühle. Kurzes Stutzen, dann sucht man sich eben eine Parkbank mit Blick aufs Allerheiligste der Wagner-Welt, obwohl es zwischendurch tröpfelt. Nicht nur an solchen Kleinigkeiten merkt man: Der Regisseur des neuen „Ring des Nibelungen“ nimmt die Sache eher von der pragmatischen Seite – auch wenn er plötzlich einen neuen Dirigenten zur Seite hat.
Haben Sie schon den Tag verflucht, an dem Sie in Verbindung mit Ihrem „Ring“ von einer Netflix-Serie sprachen? Alle reden jetzt vom „Netflix-Ring“.
Man wird ja gern falsch verstanden. Es geht hier nicht um die Ästhetik einer Fernsehserie. Was ich mit Netflix beschreiben wollte, ist die intensive Seh-Erfahrung, die man in Bayreuth hat. In einer Woche alles hintereinander anschauen, das erinnert mich tatsächlich daran, wie manche eine Serie verschlingen. Die andere Parallele: Wir haben hier ein Familienepos, in dem wir alle Figuren über Jahre hinweg begleiten dürfen. Das ist ganz ungewöhnlich in der Operngeschichte, weil man die Figuren in verschiedenen Stadien ihrer Persönlichkeitsentwicklung kennenlernt.
Inszeniert man die 15 Stunden von vorn nach hinten? Hatten Sie das Finale der „Götterdämmerung“ von Anfang an vor Augen?
Ja, weil man einen Bogen denken muss, vom „Rheingold“-Vorspiel bis zum Finale der „Götterdämmerung“. Diese Mode, für die „Ring“-Teile verschiedene Regisseure zu engagieren und damit das Trennende zu betonen, geht für mich in Bayreuth gar nicht auf. Hier muss man die vier Teile so zusammendenken, als seien sie ein Werk. Das war für uns konzeptionell entscheidend. Schließlich ist dies auch die Herausforderung beim „Ring“: dass man den Überblick behält.
Klaus Zehelein, früher Intendant in Stuttgart und Frankfurt, hat einmal eine „Ring“-Pause gefordert. Weil das Riesenwerk durch seine vielen Inszenierungen so gut wie ausgedeutet sei – und die Regisseure damit zur krampfhaften Suche nach dem neuen Weg genötigt würden.
Aber das unterscheidet den „Ring“ nicht von anderen Stücken. Schuld daran ist das vergleichsweise kleine Repertoire an den Opernhäusern. Wir sind tatsächlich bei der Frage angelangt: Was kann man mit den wenigen Werken noch anfangen? Ehrlich gesagt: Allein die Tatsache, dass Menschen wie Sie nach Bayreuth kommen und sich nochmals den „Ring“ angucken, straft doch diese pessimistische Haltung Lügen. Natürlich ist das ein großer Anspruch, Bilder zu finden, die tatsächlich noch nicht dagewesen sind, gerade an diesem Haus. Letztlich zeigt man immer einen „Ring“ in seiner Zeit. Und jedes Mal ist dabei das Vergehen von Zeit ein großes Thema. Was bleibt von uns, von der Welt übrig? Im Grunde gibt es nichts Endgültiges, Bleibendes. Wir sind nur ein bisschen Sternenstaub. Und trotzdem einen Entwurf zu entwickeln, wie man es schafft, im Moment zu leben, dieses Thema geht uns doch alle an.
Sie sagen, dass Sie offen an eine Regiesituation herangehen und intensiv auf die Darsteller eingehen. Wie verträgt sich die Haltung mit dem streng getakteten Bayreuther Probenplan? Das ist doch hier eine Arbeit des permanenten Kompromisses …
… und der permanenten Vorbereitung, allein was das Dispositionelle betrifft. Es empfiehlt sich eine sehr klare Haltung und Konzeption. Man muss sehr schnell auf den Punkt kommen. Andererseits tut Bayreuth gut, weil die meisten Mitwirkenden die Werke schon oft gemacht haben. Es gibt ein enormes Detailwissen. Man kann auf einem völlig anderen Level einsteigen und ist sofort auf einer Meta-Ebene. Gerade deshalb freuen sich die meisten über neue Ideen.
Rein arbeitstechnisch gesehen: Taten die zwei Jahre Corona-Aufschub Ihrem „Ring“ gut?
Konzeption, Bühne und Kostüme waren ja schon fertig. Wir waren in den Startlöchern. Es gab dann schon surreale Momente, als es wieder losging. Mancher hat geweint auf der Probebühne. Und gleichzeitig war da diese ungeheure Motivation.
Nun ist Ihnen nach Günther Groissböck mit John Lundgren schon der zweite Wotan abhandengekommen. Wie geht man damit um?
That’s opera life. Das kann immer passieren. Und das ist kein falsch verstandener Pragmatismus, sondern quasi Berufsvoraussetzung. Selbst noch zur Generalprobe kann ein Sänger ausfallen, damit muss man umgehen können. Man kann das sogar als Chance begreifen. In unserem Fall ist es so: Je dichter eine Inszenierung schon gewoben ist selbst bei einer Zentralgestalt wie Wotan, desto schneller kann sich der Neue einfügen. Der legt sich also sozusagen ins gemachte Bett. Und ob er da brav liegen bleibt oder die Kissen zerpflügt, ist dann die Herausforderung und macht Spaß bei der Beobachtung.
Waren Sie schon immer so cool, so pragmatisch?
Das kommt sicher von meiner Assistentenzeit, wo in der Opernarbeit viele Umbesetzungen stattfanden. Das passiert öfter, als man denkt. Und erhöht immer das Spannungslevel – auch fürs Publikum.
Ihre Eltern waren Musiker, Sie haben früh Geige gelernt und mit neun Jahren den „Fliegenden Holländer“ gesehen: War für Sie etwas anderes abseits der Musik möglich?
Das schon. Ich bin eben da hineingeboren und hineingewachsen und mochte das. Aber es gab auch andere Interessen. Und als Regisseur kann man ja alles, was man erlebt, als Inspiration für die eigene Arbeit nutzen. Das ist meine Entschuldigung für vieles, was ich tue.
Sind Sie froh, dass es die „Werkstatt Bayreuth“ gibt? Weil Sie in den kommenden Jahren die Möglichkeit zum Nacharbeiten haben?
Wenn ein Regisseur denkt, seine Inszenierung sei bei der Premiere fertig, hat er etwas falsch verstanden am Beruf. Theater ist etwas Lebendiges. Ich vertraue da ganz auf die Darsteller. Mein Credo für die Sänger ist immer: „Was ihr da gemeinsam auf die Bühne stellt, ist so unglaublich und so spezifisch. Ihr seid so drin in euren Rollen. Und wenn ihr findet, dass eine andere Geste besser ist, dann macht das bitte.“ Es ist essenziell, dass die Darsteller in ihre Freiheit entlassen werden.
Sie sind also kein Kontrollator.
Gerade weil es um Psychologisches geht, wäre es komplett widersinnig, alles final festzulegen. Jede Vorstellung wird ein bisschen anders. Und nächstes Jahr schauen wir wieder drauf – auf dass sich alles weiterentwickeln kann. Dazu zählt auch, dass man danach in der Kantine zusammensitzt und über alles redet.
Die meisten Regisseure sagen: Den „Ring“ mache ich nur einmal. Und Sie?
In nächster Zukunft kommt klarerweise keiner. Es gibt sicher Werke, bei denen sage ich mir: Das musst du auf jeden Fall noch mal machen. Zum Beispiel „Così fan tutte“. Außerdem: Den „Ring“ inszeniert man nur, wenn man in jeglicher Hinsicht fit ist. Es ist auch immer die Frage, wie selbstplagiativ man unterwegs ist. Und das kann besonders beim „Ring“ leicht vorkommen.
Fallen Sie danach in ein Loch? Was soll nach einem „Ring“ in Bayreuth denn noch kommen?
Ich weiß nicht. Ein mögliches Loch wird erst mal durch Urlaub im Süden gefüllt.
Das Gespräch führte Markus Thiel.