Kinder ihrer Zeit

von Redaktion

AUSSTELLUNG Das Lenbachhaus widmet sich den ersten 14 documenta-Durchgängen

VON ULRIKE FRICK

„Normalerweise kuratieren wir eine Ausstellung mit Werken, die man unserer Meinung nach in diesem Moment sehen sollte“, betont Lenbachhaus-Direktor Matthias Mühling. Die Kombination dieser Werke solle dann im Idealfall eine spannende Geschichte erzählen. Bei der Schau „Was von 100 Tagen übrig blieb…: Die documenta und das Lenbachhaus“ ist jetzt alles anders. „Diesmal war das kuratorische Auswahlkriterium nicht: Was haben die Werke ästhetisch miteinander zu tun? Die Verbindung war, dass sie auf einer documenta gezeigt wurden – und sich bei uns in der Sammlung befinden.“

1955 fand die erste documenta in Kassel statt. 67 Jahre später eröffnete in diesem Juni die 15. Ausgabe, die seitdem wegen der Antisemitismus-Vorwürfe nicht mehr aus den Schlagzeilen findet. Jede documenta kann für sich als verlässlicher Zustandsbericht über Kunst und Gesellschaft der Bundesrepublik und längst auch der europäischen und mittlerweile sogar internationalen Kunstszene gesehen werden. Was ist zu sehen? Was wird kritisiert, diskutiert, gesammelt? Wer sorgt für Furore? Der junge Joseph Beuys mit seiner „Bienenkönigin“ oder eher der ältere Beuys mit „7000 Eichen“?

Waren es anfangs die ideellen und personellen Altlasten der Nazizeit, mit denen die documenta-Leiter umzugehen hatten, folgte bei der vierten Ausgabe 1968 als stärkster Einfluss die Studentenbewegung, später geopolitische Veränderungen, der Terror des 11. September 2001, die Kriege von Afghanistan bis Syrien, dann Ost-West- oder Nord-Süd-Konflikte. Auf der documenta 6 waren erstmals Künstler aus der DDR dabei. Museen und Sammlungen kauften deren Werke damals jedoch kaum. Wie sich überhaupt die Institutionen oft als schwerfällig erwiesen, wenn es um das Erspüren von Trends und entsprechende Ankäufe ging.

Das documenta-Best-of im Lenbachhaus fordert einen Kontext. Weshalb in jedem Raum „Info-Inseln“ in Neongelb zu finden sind. Die Informationen, zu denen auch Zeitungsartikel der jeweiligen documenta-Phase zählen, ergänzen das Gemälde oder Objekt. Herauslesen lässt sich, dass die documenta „immer etwas viel Größeres ist als nur eine Kunstausstellung, die 100 Tage dauert“, sagt Mühling. „Sie ist auch ein riesiges Medienereignis.“ Was im Augenblick angesichts des Antisemitismus-Skandals niemand bezweifelt. Die Diskussionen über die documenta in ihrer jeweiligen Zeit sind also ein ebenso wichtiger Teil der von Mühling und den Kuratoren Eva Huttenlauch und Dierk Höhne sorgsam zusammengestellten Ausstellung wie die einzelnen Werke.

Im ersten Raum entsprechen die Hängungen jenen der ersten documenta. Da sah man Gabriele Münters „Stillleben Grau“ und Franz Marcs „Rehe im Schnee“ nebeneinander. Die ersten drei Ausgaben waren nämlich noch nicht der Gegenwartskunst gewidmet. Da sah man vor allem Vorkriegsavantgarde. Um den Bruch zum Nationalsozialismus und Faschismus zu zeigen, eigneten sich die einst als „Entartete Kunst“ verfemten Künstler bestens.

Da zeigt sich schon der erste Widerspruch bezüglich der Kontinuität: Während einst die Maler verboten waren, verliefen die Karrieren der Veranstalter seit der NS-Zeit weitgehend bruchlos. Weshalb die Heilungsversuche der ersten documenta-Durchgänge einen blinden Fleck aufwiesen, was das kunsthistorische Personal anging. Das wiederum war der Grund für Münters wichtige Schenkungen an das damals noch unbedeutende Lenbachhaus, das in der Nachkriegszeit als politisch unbedenklich galt.

Eine Wand mit Infotafeln bestätigt allerdings eine erschreckende Kontinuität: Mag die alle fünf Jahre stattfindende Schau noch so häufig Impulsgeber gewesen sein: Beim Thema Geschlechterverhältnis war sie es nie. Noch bei der 13. documenta standen 132 Künstler 62 Kolleginnen gegenüber. Bei der 14. sah es ähnlich aus: 106 Männer durften ihre Werke ausstellen, aber nur 57 Frauen. Die gegenwärtige Ausgabe hat ihren Skandal ja schon weg, da dürfte es kaum noch ins Gewicht fallen, wie viele Objekte am Ende aus Frauenhand stammten.

Informationen:

Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr;

www.lenbachhaus.de

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