Blick zurück mit Tränen

von Redaktion

Umberto Giordanos Sträflingslager-Tragödie „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen

Ein Chorgesang ohne Instrumente, unisono. Gleich zu Beginn, statt einer Ouvertüre. Man hört es und fühlt sich sofort in einer orthodoxen Kirche. Dabei ist kaum etwas daran authentisch: So stellte sich seinerzeit Umberto Giordano Russland vor. Es sind Anklänge, Exotismen, wie es seine Zunft nicht nur damals gern hatte. Parallel dazu komponierte sich Giacomo Puccini mit „Madame Butterfly“ in seinen Ohren Japanisches zusammen. „Sibirien“, Giordanos 1903 uraufgeführter Zweistünder in drei Akten, ist eine jener Opern, die durchs Raster gefallen sind. Nicht nur das ist Grund genug für die Bregenzer Festspiele, die Tragödie zu reanimieren. Zumal, eine schöne programmatische Pointe, „Sibirien“ seinerzeit an der Scala statt „Madame Butterfly“ gespielt wurde – Puccini war mit seinem Drama, das heuer draußen auf der Bregenzer Seebühne läuft, noch nicht fertig.

Stephana, Ex-Kurtisane und dank eines ihr verfallenen Fürsten zu Reichtum und Ansehen gekommen, verliebt sich in den mittellosen Offizier Vassili. Der verwundet das Blaublut, muss deshalb nach Sibirien, wohin ihm Stephana folgt. Auf der Flucht wird sie erschossen: Nicht nur dank Giordanos süffigem, hochemotionalem Klangkleid drohen Kitsch und Naturalismus-Alarm. Regisseur Vasily Barkhatov hat im Bregenzer Festspielhaus die passende Brechung parat. Eingebettet wird alles in eine Rahmenhandlung. Per Schwarz-Weiß-Video von Christian Borchers und Live-Auftritten verfolgt man die Reise einer alten Italienerin nach St. Petersburg und Sibirien kurz nach der Wende. Eine Urne hat sie im Arm, darin die Asche ihres Bruders Vassili. „Sibirien“ wird hier zur Erinnerungstragödie, auch zum Nachdenkraum über altes und neues Russland.

Barkhatov spielt gekonnt mit diesen Ebenen, Christian Schmidt hat ihm dazu eine Bühne geliefert, die (anfangs etwas zu häufig) Überblendungen und Parallelisierungen erlaubt. Dass die Straflager-Szenen nach kleinem Glück in pittoreskem Ambiente schmecken (Kostüme: Nicole von Gravenitz), ist auch ein Problem des Stücks. Bei Giordano tut sich eine Kluft auf zwischen Brutalo-Handlung und wirkungsbewusster, ohrenschmeichelnder Partitur. Dabei hat er im Schatten Puccinis durchaus Ambitioniertes im Sinn. Vieles ist deutlich weniger auf Vollrahmstufe geschrieben als beim Kollegen, mit größerer Delikatesse in der Instrumentierung, andererseits mit ungemilderten Härten in den Ausbrüchen. Auch strukturell gibt es Besonderheiten, und das betrifft nicht nur den A-cappella-Beginn. Es sind kleine Experimente auf Sichtweite der Kulinarik, zu der Giordano immer wieder wie in den sicheren Hafen zurückkehrt.

Stimmlich ist eher das große Kaliber gefragt. Ambur Braid als Stephana begegnet den dramatischen Anforderungen mit nimmermüdem Heroinen-Sopran und gelegentlicher Feinzeichnung. Dazu mag der lyrisch grundierte, warm timbrierte Tenor von Alexander Mikhailov als Vassili wenig passen. Doch gerade im Kontrast ist das apart, sorgt für noch mehr Sympathiepunkte beim liebenden Sträfling. Als klassischer Bariton-Fiesling ist die Rolle des Gleby konzipiert, der Stephana einst zur Kurtisane machte. Scott Hendricks hat dafür genügend Ekel-Klänge parat. Clarry Bartha als alte, dazuerfundene Schwester Vassilis verströmt eine Aura, die dem Abend mehr als guttut. Dirigent Valentin Uryupin hat sich tief in die Partitur hineingelebt. Fast nie klebt er an den Noten, widmet seine Aufmerksamkeit stets dem Ensemble und den Wiener Symphonikern – die, auch das zeugt vom Chamäleon-Charakter des Orchesters, so ganz anders tönen als tags zuvor bei „Madame Butterfly“. Die Feinheiten und instrumentalen Mixturen behält Uryupin zwar im Blick, Hyperintensität ist ihm aber lieber, gelegentliches Mitstampfen verrät das.

Die nur kurz angerissenen Szenen Giordanos und seines Librettisten Luigi Illica (er schrieb auch an der „Butterfly“ mit), dazu die dicht gearbeitete Inszenierung machen den Abend kurzweilig. Und doch bleibt der Eindruck: Man hätte gern mehr erfahren. Über die Figuren, die aus der klassischen Opern-Konstellation herausdrängen, und auch über dieses ungreifbare Russland, über die verbindenden Linien quer durch die Zeitläufte. Nach nur drei Aufführungen wandert „Sibirien“ an die koproduzierende Oper Bonn. Ein starkes Stück, das zur Auseinandersetzung einlädt – man wünscht ihm weitere Befragungen.

Weitere Vorstellungen

an diesem Sonntag, 11 Uhr, sowie am 1. August; bregenzerfestspiele.com.

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