Euch zeig ich’s

von Redaktion

Anna Netrebko singt bei den Thurn und Thaxis Festspielen in Regensburg

VON MARKUS THIEL

Eine gute halbe Stunde vor Beginn wird es dann doch laut auf dem Emmeramsplatz. „Ihr habt’s so Recht!“, ruft eine Frau und klatscht. Heftiges Nicken in Richtung der Gruppe, die stumm und mit Protestschildern vor dem Schloss steht. „Stop Blood, stop Putin“, liest man. Auch „Nein zur Kultur der Kriegsverbrecher“ und „Anna, wie wär’s mit Benefizkonzert in der Ukraine?“ Die rund 30 Frauen und Männer gehören zur ukrainischen Gemeinde in Regensburg. Flüchtlinge oder Menschen, die schon länger in der Oberpfalz wohnen. Etwas irritiert schauen sie auf die rufende Dame, die nach rechts einbiegt in den Schlosspark und dort ihre Karte vorzeigt. Aufs Netrebko-Konzert verzichten? Keinesfalls.

Es ist der erste Deutschland-Auftritt der Diva, nachdem sie zur Aussätzigen der Opernszene wurde. Manche sagen, Anna Netrebko habe sich das selbst eingebrockt, indem sie sich mit verunglückten Äußerungen zwar vom Krieg, aber nicht von Putin distanzierte. Andere prangern die um sich greifenden Gewissensprüfungen an: Erst ein böses Wort gegen den russischen Zar, dann Bühne frei – kann man das von jedem Kunstschaffenden verlangen? Die Stuttgarter haben die Netrebko und ihren Mann, Tenor Yusif Eyvazov, gerade ausgeladen, am 3. September hätten sie dort auf dem Schlossplatz singen sollen. Verona war dagegen gnädig. Doch die dortige Aida der Netrebko stieß auf heftige Kritik, weil sie sich dunkel schminkte. „Blackfacing“, schallte es empört – auch wenn die ukrainische Alternativbesetzung Gleiches praktizierte.

Die Maßstäbe sind also etwas ins Rutschen geraten. Und der Verdacht wird in Regensburg zur Gewissheit: Mit den Empörungswellen in den Blasen von Twitter und denen der kulturpolitischen Entscheidungsträger hat die Realität nur bedingt zu tun. Rund 3000 Menschen strömen an diesem Freitagabend in den Schlosspark. Dort, wo Fürstin Gloria in St. Emmeram residiert, so etwas wie Deutschlands ungekrönte Königin des politisch Inkorrekten. Für 144 Euro ist die billigste Karte zu haben, die teuerste kostet 265 Euro. Wer will, kann das Gala-Menü für 120 Euro dazubuchen. Lange Abendkleider, Plateau-Sohlen, Smoking, Trachtenjanker, sogar kurze Männer-Hosen bei knapp 30 Grad – Netrebko-Fans gibt es quer durch alle Schichten. Schlangen an den Schaumwein-Ständen, ein BMW in Mattlack kündet von einem der Sponsoren: Ob sich die Firma nun auch rechtfertigen muss?

Es dauert, bis jeder seinen Platz im ausverkauften Innenhof des Schlosses gefunden hat. Viele sind zum ersten Mal hier und teils von weit angereist, am nahen Parkhaus zeigt eine Schrift schon 90 Minuten vor Beginn „besetzt“. Und die Netrebko? Bietet kein Sparprogramm, sondern geht in die Vollen. Gestartet wird von null auf 190 mit der kompletten Finalszene aus Donizettis „Anna Bolena“. Dazu der Schluss aus Verdis „Aida“, Gounods Juliette oder das große Duett aus Tschaikowskys „Pique Dame“: Zwischen „Ich kann’s noch“ und „Euch zeig ich’s“ bewegt sich die Hitparade. Ein klein wenig hört man anfangs: Die Netrebko ist nervös und nicht ganz im Training. Doch das gibt sich, gerade weil sie auf Risiko geht.

Eine Zwitscher-Mamsell, die sich durch Koloraturen schlängelt, war sie nie. Trotzdem hat der Donizetti Klasse, gerade in Bolenas Wut, die hier auch ein bisschen die ihrer Interpretin zu sein scheint. Alles ist da an diesem zweieinhalbstündigen Sommerabend: der mühelose dramatische Aplomb, die entspannte Mezzavoce, eine butterweich flutende hohe Lage. Man staunt wieder über eine Stimme, die zu den derzeit schönsten gehört. Und über eine Solistin, die immer mehr Lust am Auftritt gewinnt, kleine Scherze und Charmieren mit dem Publikum inklusive. Das hat die andere Hälfte des Netrebko-Pakets besser drauf. Yusif Eyvazov gibt den Entertainer. Ausgebreitete Arme, Winken, schon vor dem ersten Ton hat er die Fans. Auch er packt das große Besteck aus: Radames, Manrico, Hermann, im Zugabenblock natürlich „Nessun dorma“, womit er den Letzten vom Plastiksitz reißt. Als Gestalter hat der Netrebko-Mann deutlich dazugewonnen, an den teils blechernen Klang seines wetterfesten Tenors wird man sich nie gewöhnen.

Als Extra ist noch Bariton Elchin Azizov aus Eyvazovs aserbaidschanischer Heimat dabei, der unter anderem eine kraftstrotzende, raubauzige Escamillo-Arie beisteuert. Mezzosopranistin Vera Semeniuk fungiert als Stichwortgeberin. Die Hofer Symphoniker unter Michelangelo Mazza schlagen sich hochachtbar. Der Abend ist, man hört es, nicht überprobt, es gibt jedoch viele musikalische Berührungspunkte mit den Stars. Ovationen, nicht die kleinste Unmutsäußerung drinnen. Draußen sind die Protestler längst abgezogen. „Wie viele Sänger können heute zwischen Vorstellungen von ,Aida‘ und ,Turandot‘ Arien von Donizetti und Gounod bringen? Nicht viele.“ Die Kritik besorgt die Netrebko also selbst. Sonntagfrüh um 3 Uhr auf Twitter.

Artikel 4 von 6