Schnitzler, geschnetzelt

von Redaktion

SALZBURGER FESTSPIELE Zehn Autorinnen und Autoren schreiben den „Reigen“

Ali Mitgutsch konnte es. In den Wimmelbüchern des großartigen Illustrators (1935-2022) geschieht alles im selben Moment; Szenen, die nichts miteinander zu tun haben, stehen da gleichberechtigt nebeneinander. Mitgutsch gestaltete jedoch jede Doppelseite als Einheit, als ein Werk. Eben das gelingt Yana Ross bei den Salzburger Festspielen nicht. Die Regisseurin hat die Uraufführung des „Reigen“ nach Arthur Schnitzler (1862-1931) eingerichtet; am Donnerstag war Premiere in der Szene Salzburg, dem einstigen Stadtkino.

Freilich ist die Idee hinter dieser Inszenierung charmant, die in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich entstanden ist. Doch vermittelt Ross nicht, was die Neufassung des Stücks soll. Schnitzler, geschnetzelt – warum? Die Festspiele haben jedenfalls zehn Autorinnen und Autoren gebeten, je eine Szene des Dramas in die Gegenwart zu holen. Der „Reigen“ ist eine Karussellfahrt durch alle sozialen Schichten aus Begehren, Sex und Machtausübung in der Struktur des Tanzes: Eine Figur wechselt jeweils in die Folgeszene. Die Uraufführung 1920 trat einen derben Skandal los, bis vors Gericht ging der Zoff – Schnitzler verhängte frustriert ein Aufführungsverbot. Es galt bis 1982. Sein Text ist heute aber alles andere als aus der Zeit gefallen: Über Beziehungen, Abhängigkeiten, soziale Auf- und Abstiege sollte viel häufiger gesprochen werden.

Natürlich ist auch nichts dagegen zu sagen, sich durch den Österreicher inspirieren zu lassen und anhand seiner Idee etwa von Entfremdung, Raubtierkapitalismus, den Folgen der Pandemie, Homophobie und Russlands Kriege (im Internet, gegen die Ukraine) zu erzählen. Es ist halt nur ein bisschen viel – und Ross hat in diesen knapp zweieinhalb pausenlosen Stunden alle Mühe, die in ihrer Qualität stark schwankenden Texte zusammenzuhalten und als sinnvolles Ganzes, als stringente Inszenierung zu etablieren.

Von Márton Ágh ließ sich die Regisseurin ein Nobelrestaurant als Einheitsraum auf die Bühne bauen. Es ist die vielleicht beste Idee dieses Abends, denn hier können sich die Szenen überraschend organisch zwischen Stoffservietten, Kerzenleuchtern, Porzellan und verspiegelter Rückwand entwickeln. Gespielt wird mit großer Entschleunigung, was nicht dem Ensemble anzukreiden ist, sondern Yana Ross: Bei gedrosseltem Tempo wird noch offensichtlicher, wie schwach viele Vorlagen sind.

Dieser „Reigen“ will literarische Leistungsschau sein. Und die Salzburger haben für die Neufassung der zehn Dialoge tatsächlich mitunter tolle Autorinnen und Autoren der Gegenwart verpflichtet: Lydia Haider, Sofi Oksanen, Leïla Slimani, Sharon Dodua Otoo, Leif Randt, Mikhail Durnenkov, Hengameh Yaghoobifarah, Kata Wéber, Jonas Hassen Khemiri und Lukas Bärfuss. Doch wer gute, mitreißende, spannende, kluge und schöne Prosa schreibt, muss noch lange nicht für die Bühne schreiben können. Das wird hier bitter deutlich. Und während in Verlagen Lektorinnen und Lektoren ihre wichtige Arbeit leisten, scheint sich bei den Festspielen niemand getraut zu haben, die Szenen beherzt zu kürzen oder gar zur Umarbeitung zurückzuschicken.

Dennoch gibt es Momente, in denen klar wird, wie gut es hätte werden können. Die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani, bei uns bekannt vor allem durch den starken Roman „All das zu verlieren“, hat aus Schnitzlers „Das Stubenmädchen und der junge Herr“ eine Gerichtsverhandlung um eine angebliche Vergewaltigung gemacht, die geschickt zeigt, wie vielschichtig das Problem sexualisierter Gewalt ist. „Die Szene, die Sie erlebt haben, hat nichts mit der zu tun, die das Opfer erlebt hat. Darin liegt die Tragik unserer Existenz und darauf beruht die Notwendigkeit des Gesetzes“, heißt es darin. Auch Leif Randt, viel gelobt für Romane wie „Schimmernder Dunst über CobyCounty“ und „Allegro Pastell“, glückt mit seinem „Dialog zwischen der jungen Frau und dem Ehemann“ eine berührende Analyse einer Liebesbeziehung. Das sind Szenen, die das Ensemble – allen voran die hervorragenden Schauspielerinnen Lena Schwarz und Yodit Tarikwa – hinreißend gestaltet.

Anderes, wie „Das süße Mädchen und die Dichterin“ von Hengameh Yaghoobifarah, ist zum Niederlegen platt – oder überambitioniert: Büchner-Preisträger Lukas Bärfuss etwa nutzt seinen Text für Kritik an den Festspielen: Bei ihm ist von Nickel die Rede, ein Hinweis aufs Schweizer Unternehmen Solway, das einen eher laxen Umgang mit Umweltschutz und Menschenrechten pflegt, und ein Sponsor, von dem sich Salzburg unlängst trennte (wir berichteten). Gut gemeint ist das, aber eben auch ein weiteres Thema, das Ross einbinden muss. Vielleicht hätte Ali Mitgutsch ja Rat gewusst.

Netter Applaus, viele Gäste haben die Premiere allerdings vorzeitig verlassen.

Weitere Vorstellungen

am 31. Juli sowie am 3., 5., 6., 8., 9. und 11. August; Telefon 0043/662/8045 500.

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