Der Tiefpunkt wurde unter anderem auf Facebook dokumentiert. Folgevorstellung von „Les Troyens“. Ein paar Versprengte im Parkett, das zeigen die Bilder, vielleicht 30, 40 Menschen sitzen da unten. So etwas kennt man nicht von der Bayerischen Staatsoper, höchstens aus Proben. Zusammenbrechende Kartenserver, Schlangen vor der Kasse – ein Märchen aus guten alten Zeiten?
Dem Haus ist zugutezuhalten: So trist wie beim fünfaktigen Berlioz-Schinken war es sonst offenbar nie. Zehn Premieren, davon nur ein Stück aus dem 19. Jahrhundert (ausgerechnet der Berlioz), ansonsten alles 20. und 21. Jahrhundert. Eine Zumutung mit Ansage war das fürs Publikum in der ersten Spielzeit von Intendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski. Ausgerechnet an einem Ort, der von Ex-Intendant Nikolaus Bachler mit Kulinarik, Star-Paraden und gemäßigter Regie-Ambition verwöhnt worden war. Am Ende dieser schwierigen Saison steht eine Auslastung von 88 Prozent, wie die Staatsoper meldet. „Journalisten-Freikarten inklusive“, schiebt Sprecher Michael Wuerges hinterher.
Doch was wirklich frei verkauft war, was „gestopft“ mit billigen Steuerkarten, das ist nicht herauszubekommen. Eine Praxis, die es übrigens auch an anderen Theatern gibt. Nicht zuletzt durch solche Aktionen kam die Staatsoper in der Ära von Sir Peter Jonas auf eine zufriedenstellende Auslastung: Die Wiederaufnahmen von Händel & Co. waren irgendwann Kassengift.
Die dürftigen Zahlen der Spielzeit 2021/2022 spiegeln dabei das künstlerische Ergebnis nicht wider. Sicher, da passierte Maues, nicht zu Ende Gedachtes. Man erinnere sich nur an Christoph Marthalers Lehár-Zersetzung mit „Giuditta“, an Janáceks „Das schlaue Füchslein“ mit einem schwächelnden Regisseur Barrie Kosky oder an Strauss, an David Martóns nur punktuell widerhakigen, neun Jahre alten „Capriccio“-Import. Auch die Produktion von „Les Troyens“ startete stark, um dann ebenso rasant nachzulassen, schon in der Premiere suchte mancher in den Pausen das Weite.
Andererseits kam es zu aufregenden, im besten Sinne belästigenden Neubefragungen. Mit „Die Nase“ von Schostakowitsch in der Inszenierung von Kirill Serebrennikow, mit „Peter Grimes“ von Britten, bei dem Regisseur Stefan Herheim zu neuer, spannender Einfachheit fand. Oder mit „Die Teufel von Loudun“ von Penderecki, bei dem das Verheutigungskonzept von Simon Stone einigermaßen aufging.
Der Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski sorgte in den vergangenen Monaten für einen hier neuen, teils sehr aufregenden Deutungsstil. Ein cooler Organisator, ein strukturbewusster Animateur, keiner, der sich in der Musik vergisst und verliert. Für Letzteres gibt es ja den Ersten Gastdirigenten Daniele Rustioni.
Und dann war da der Höhepunkt. Das neue Festival „Ja, Mai“ mit zeitgenössischer Musik von Georg Friedrich Haas auf Texte von Händl Klaus. Beim Missbrauchs-Schocker „Bluthaus“ fügte sich vom Gesangspersonal über die Regie bis zum Dirigat von Titus Engel alles zur Aufführung der Saison (nicht nur an diesem Haus), das einen Sterbeprozess dokumentierende Drama „Thomas“ landete knapp dahinter. Vielleicht hätte das Licht von „Ja, Mai“ noch stärker gestrahlt, wenn der gesamten Saison nicht ihre Ambition überdeutlich anzumerken gewesen wäre. „Jeder Mensch ein Meisterwerk, jeder Mensch ein König“, überschrieb Dorny die Spielzeit. „Das habt Ihr verpasst, diese Kost braucht Ihr statt Sahnetorten“ – dies war das heimliche Motto.
Viel spricht dafür, dass die Staatsoper außerdem ein Long-Covid-Opfer geworden ist. Karten scheinen seit den Lockdowns nicht mehr zu den Lebensmitteln zu gehören, auch in München. Das Alarmzeichen sendete der „Rosenkavalier“ aus. Die Wiederaufnahme der Strauss-Oper aus der vorherigen Bachler-Saison, als die Produktion nur per Video-Stream herauskam, war nicht ausverkauft – trotz Barrie Koskys herausragender Inszenierung. Ein Hit, ein Stück, das zur DNA des Hauses gehört, trifft nicht mehr auf übersteigertes Interesse. Im Grunde ein Schock.
Wie die Theater dem Schwund begegnen, wissen sie selbst noch nicht. Es könnte gut sein, dass sich die Menschen in diesen düsteren Zeiten nach Geschichten sehnen, nach „ihren“ Stücken, die sie lange vermisst haben, weniger nach Her- und Hinrichtungen durch die Regie, nach immer mehr Neustrukturierungen und Werk-Übermalungen. Schlimm hat es hier auf der anderen Straßenseite die Münchner Kammerspiele erwischt. 58 Prozent Auslastung, unter anderem wegen solcher Zahlen wurde der vorherige Intendant Matthias Lilienthal in die Wüste geschickt.
„Zehn Paukenschläge“ werde es in seiner ersten Saison geben, so Serge Dorny im Gespräch mit unserer Zeitung vor Saisonstart. Dass mancher Schlag verhallt, hat er womöglich einkalkuliert. Der offensive Neubeginn war ihm wichtiger. Intendant und Publikum fremdeln also miteinander. Noch. Im Grunde ist das normal. Und auch, dass Dorny in seiner zweiten Saison wie zum Trost in die Konfektschachtel greift – mit Mozarts „Così fan tutte“, Wagners „Lohengrin“ und Verdis „Aida“. Und am Horizont, 2024, leuchtet schon Wagners „Ring“ in der Regie von Tobias Kratzer.