„Wir können nicht so weitermachen“

von Redaktion

Dirigent Thomas Hengelbrock über den Klassikbetrieb und Corona als Chance

Er war immer ein Dissident. Doch der Dirigent Thomas Hengelbrock beschränkt sich nicht auf Kritik am Musikbetrieb, sondern trieb Veränderungen voran. Etwa mit dem von ihm gegründeten, privaten Balthasar-Neumann-Ensemble: zwei erstklassige Klangkörper im Bereich der Alten Musik. Eine Insel des „kompromisslosen“ Musikmachens, wie es der 64-Jährige ausdrückt. Und ein Vorbild für die satten, unbeweglichen, öffentlich finanzierten Supertanker. Hengelbrock, der Chefpositionen bei der Deutschen Kammerphilharmonie, der Wiener Volksoper und beim NDR-Elbphilharmonie-Orchester bekleidete, hat Musizieren immer gesellschaftspolitisch begriffen – auch mit der Gründung einer kubanischen Jugendakademie. Die teils heftigen Auswirkungen der Pandemie nimmt er als Chance.

Wie sind Sie mit Ihren Ensembles über die vergangenen beiden Jahre gekommen?

Künstlerisch und menschlich sind wir erstaunlicherweise ganz hervorragend durch diese Krise gekommen. Balthasar-Neumann-Orchester und -Chor sind mein Lebensprojekt, und das ist es auch für viele Musikerinnen und Musiker, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. In unseren Ensembles – das mag jetzt altmodisch klingen – arbeiten wir sehr wertebasiert: kompromisslos Musik machen in einem respektvollen Rahmen, in einem geschützten Raum. Als die Pandemie ausbrach, war uns allen, 90 Musikschaffenden und dem Büroteam, klar: Wir wollen und müssen weiterspielen! Also haben wir zwischen der ersten und der letzten Lockdown-Phase mehr als 20 Projekte realisiert – obwohl uns von den Veranstaltern fast alles abgesagt worden war. Wir haben ein Sicherheits- und Hygienekonzept entwickelt, welches das Singen und Spielen ohne Abstände und Masken erlaubt. Wir sind Monat für Monat in die Länder gereist, in denen wir mit unserem Konzept arbeiten konnten.

Ihre Musiker und Sänger kommen aus ganz Europa: Haben Sie finanzielle Hilfen bekommen?

So gut wie keine. Zum Beispiel wurden unsere Anträge beim Bund im Rahmen des Programms „Exzellente Orchesterlandschaft“ ohne Begründung abgelehnt. Wir haben jedoch einige wenige, umso engagiertere Freunde und Mäzene, die uns geholfen haben, alle voll zu bezahlen. Außerdem konnten wir einen privaten Fonds einrichten, aus dem jede Musikerin und jeder Musiker Geld abrufen konnte, falls es für das Auskommen während der Pandemie nicht gereicht hat.

Ihre kubanische Jugend-Akademie musste allerdings pausieren.

Ja, leider! Wir konnten ja nicht rüberfliegen, und die jungen Musikerinnen und Musiker durften nicht ausreisen. Nachdem wir in den vergangenen Jahren über 30 Projekte in Havanna, aber auch mit kubanischen Musikschaffenden in Europa durchführten, war diese lange erzwungene Unterbrechung für uns alle sehr schmerzhaft. Aber jetzt läuft das Projekt wieder, auch wenn es administrativ und finanziell für uns eine Riesenaufgabe darstellt. Wir müssen es einfach weiterführen, weil es um viele große Talente geht, die ansonsten keine Perspektive hätten.

Warum gerade Kuba?

Vor neun Jahren habe ich ein Studentenorchester in Havanna dirigiert. Das war sehr bewegend für beide Seiten. Und schnell wurde klar: Das muss irgendwie weitergehen. Es gibt so viele außerordentlich Begabte dort, die hungrig nach guter Ausbildung sind, auch neugierig auf neue Sicht- und Spielweisen, auf den Austausch mit Europa, auf Neue Musik, auf Alte Musik. Und sie wissen, dass sie nur durch eine gute Ausbildung eine Chance als Musiker haben. Darum gründeten wir 2014 die Cuban-European Youth Academy. Dozenten des Balthasar-Neumann-Orchesters geben Meisterkurse und Kammermusikunterricht. Dazu veranstalten wir jährlich einen großen Orchester-Campus, der je zur Hälfte mit kubanischen und mit europäischen Studenten besetzt ist. Daraus ist menschlich eine starke Verbindung gewachsen. Unsere europäischen Stipendiaten wohnen auf Kuba bei den Familien, teilen eine Zeit lang das sehr einfache, oft entbehrungsreiche Leben, haben dort teilweise sogar Weihnachten verbracht. Sie erleben die unglaubliche Gastfreundschaft, diese Herzlichkeit, aber auch die große materielle Not, das stundenlange Anstehen für Nahrungsmittel und sogar Wasser. Das sind fundamentale Erfahrungen. Wenn man die gemacht hat, erscheint einem manchmal die Corona-Krise als leichte Übung.

Auch wenn es nach Klischee klingt: Erlebt und spielt man dadurch Musik anders?

Ja. Musik ist direkter Ausdruck einer Lebensfreude, die man sich noch bewahrt hat. Was wir Europäer dort gelernt haben: dass man mit sehr wenigen materiellen Dingen zufrieden sein und im Miteinander großes Glück erleben kann. Ich war in vielen Ländern der Welt, aber ich habe nie eines erlebt, in dem die Menschen so friedlich und herzlich miteinander umgehen – auch wenn sich das, bedingt durch die große Umbruchsituation dort, gerade ändert. Wir in Europa leben im Vergleich dazu auf einem unglaublich hohen materiellen Niveau und sind trotzdem oft unzufrieden, übel gelaunt und begegnen uns, nicht nur in den Sozialen Netzwerken, respektlos und hasserfüllt. Das alles, das Positive wie das Negative, spiegelt sich im gemeinsamen Musizieren.

Musik ist dort also etwas mehr Existenzielles?

Ja, es geht auf Kuba mehr ums Existenzielle, nicht so sehr ums Ästhetische wie in Europa. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand dort eine große wirtschaftliche Krise. Abgesehen von der existenziellen Bedrohung gab es, was den Kultursektor betrifft, fast keine neuen Noten mehr. Ich erlebe Musikerinnen und Musiker, die schlecht Noten lesen können, aber eine Tschaikowsky-Symphonie nachspielen können, weil sie sie im Radio gehört haben – phänomenal.

Daraus spricht eine Kritik an etablierten Ensembles. Sind die noch so wie zu der Zeit, als Sie dagegen opponierten? Oder hat sich durch die jüngere Generation etwas verändert?

Sogar viel. Ich habe zum Beispiel in Hamburg sehr positive Erfahrungen mit dem NDR-Orchester gemacht, das ein eher konservatives Ensemble war, was historische Spieltechniken betrifft. Da sagten etwa die Hornisten: „Naturhörner spielen? Never!“ Nach vier Jahren taten sie es trotzdem und spielten sogar auf Wiener Hörnern. Sie taten das sehr gut und mit Überzeugung. Auch die Streicher haben Programme mit Darmsaiten und Barockbögen gespielt. Doch habe ich als Gastdirigent in letzter Zeit leider auch ein „Rollback“ erlebt. Sobald Konflikte entstehen, geht das schnell zulasten der Musik. Vor Kurzem kamen die Blechbläser eines großen Orchesters zu mir und sagten: „Wir würden das Programm mit ihnen gern mit Naturinstrumenten spielen. Aber da es keine Zulage gibt, spielen wir das auf den modernen.“ Der Raum, den viele der großen Institutionen bieten, ist zu verengt und zu sehr aufs Materielle ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund verursachte Covid einen ganz schrecklichen Rückfall. Plötzlich geht es nur noch um Geld und Besitzstandswahrung.

Sie hängen mit Privatgeld in Ihren Ensembles drin?

Ja sicher, das ist bis zu einem gewissen Punkt auch richtig so, denn ich habe diese Ensembles gegründet, sie sind mein künstlerischer Mittelpunkt. Aber es wäre sehr zu wünschen, dass sich diese enorme Unwucht im Klassikbetrieb mit teilweise völlig überzogenen Gagen für viele Dirigenten und Solisten einerseits und unzureichender Bezahlung für viele freie Künstler und Gruppen endlich ausbalanciert.

Wird denn die Pandemie die Wahrnehmung von Musik und das Konzertleben verändern?

Grundsätzliche Entwicklungen werden damit beschleunigt, hoffentlich nicht nur die zum Schlechteren. Wir alle stehen vor großen Herausforderungen, vielen Fragen. Müssen die Opernhäuser und Theater wirklich so viele Produktionen im Abo-System raushauen, weil es schon immer so war? Oder denken wir unser System grundsätzlich zeitgemäßer und lebendiger neu? Mit den Balthasari gehen wird den Weg der Partizipation geradlinig und erfolgreich weiter: konsequenter Ausbau unserer Akademie, keine Projekte mehr ohne Teilnahme von Schülern oder Studenten, viele Konzerte unter Mitwirkung von Nachwuchs-Chören oder -Orchestern, Konzerte oder begleitende Veranstaltungen in Schulen, Psychiatrien, Kliniken, Alzheimer-Zentren oder Flüchtlingslagern. Und die Vernetzung mit anderen jungen Organisationen. Das sind alles keine Alibi-Veranstaltungen sondern essenzielle Aktivitäten, um uns kulturell und sozial in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Sollte der Musikmarkt dauerhaft übersättigt und ermattet sein, müssen wir eben andere Wege finden, das tiefe existenzielle Bedürfnis vieler Menschen nach Kunst zu befriedigen. All dies scheint nun immer mehr bewusst zu werden. Jetzt brauchen wir dafür neue Denkweisen, Räume und Freiheiten.

Das Gespräch führte Markus Thiel.

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