Existenz auf Widerruf

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG „Eine andere jüdische Weltgeschichte“ von Michael Wolffsohn

VON ULRIKE FRICK

Der Historiker Michael Wolffsohn war schon immer ein streitbarer Geist, der „Tacheles“ redet, mit seiner Meinung aber gerne auch einmal aneckt. Man denke nur an seine Äußerungen zur Integrationsbereitschaft von Muslimen oder zum israelisch-palästinensischen Konflikt. Im zunehmend geglätteten Diskurs fällt einer wie Wolffsohn auf.

Auch in seinem aktuellen Buch „Eine andere jüdische Weltgeschichte“ provoziert der emeritierte Universitätsprofessor wieder mit einigen Thesen, die so zugespitzt bisher noch nirgendwo zu lesen waren. Wie der Titel schon sagt, dreht sich alles um die Geschichte des Judentums. Allerdings geht Wolffsohn da nicht von Abraham an chronologisch bis zu Diaspora und Schoah vor, sondern beschäftigt sich mit verschiedenen Themenkomplexen, die er für prägend hält. Von den im Orient und im Okzident lebenden Juden über Tora und Talmud als Fundamente des Glaubens über die Speisegesetze bis hin zu einer subjektiven Auswahl bedeutsamer Juden von Apostel Paulus und Schriftsteller Boris Pasternak bis zum Politiker Walther Rathenau.

Eine „andere“ jüdische Weltgeschichte will Wolffsohn erzählen. Eben nicht mit den üblichen Zutaten zusammengebraut, sondern frisch und neu und aus bislang unbekannten, sehr unterschiedlichen Perspektiven, kurz, knapp und einprägsam erklärt. „Wald und weniger Bäume oder gar Blätter“, nennt der Autor das.

Dabei streift er auch Aspekte, bei denen man schlucken muss. So schreibt Wolffsohn beispielsweise von den „jüdischen Genen“ und kommt unter anderem gemäß biologischer Forschungsergebnisse zu der Erkenntnis, dass „Juden häufiger als Nichtjuden unter mentalen Erkrankungen wie zum Beispiel Depressionen oder Paranoia“ leiden.

Die Erklärung hierfür: Die Jahrtausende der Gefahr, Verfolgung und Diskriminierung bis zu den Gräueltaten der Nationalsozialisten zählen in seinen Augen zu den „Grundfakten jüdischen Seins und Daseins“. Diese „Existenz auf Widerruf“ hat Spuren hinterlassen, auch noch in den Psychen der Nachgeborenen. Den Antisemitismus nennt Wolffsohn „Fluch und Segen“. Der Fluch ist klar zu erkennen. Als Positiva nennt er den enormen Überlebenswillen und den großen Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft, immer mit dem Staat „Israel als Lebensversicherung aller Juden“ im Hintergrund. Und die ist leider angesichts von Vorfällen wie dem Skandal um die „documenta fifteen“, angesichts der alarmierend steigenden Zahlen antisemitischer Übergriffe, in Deutschland wie überall in Europa nach wie vor dringend nötig.

Wolffsohns gut und leicht zu lesendes, unterhaltsames Buch ist daher nicht nur interessierten Historikern als eine anregende Diskussionsgrundlage zu empfehlen, sondern schlichtweg jedem, der seiner Umgebung mit wachem Blick begegnet.

Michael Wolffsohn:

„Eine andere jüdische Weltgeschichte“. Herder Verlag, Freiburg, 368 Seiten;, 28 Euro.

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