Gründerin eines Start-ups, das wäre Marie vielleicht, würde sie heute leben. Eines erfolgreichen Start-ups natürlich. Marie wäre die Chefin, die das Unternehmen aus dem Nichts aufbaut und an die Spitze führt: taff, klug, umsichtig, geschätzt und geliebt vom Team, respektiert von Geschäftspartnern, gefürchtet von der Konkurrenz. Doch Marie lebt im 12. Jahrhundert in Britannien. Als sie 17 ist, im Jahr 1158, wird sie von der von ihr vergötterten Königin verstoßen – weg vom Hofe, hinein ins schlammige England. „Out of nowhere“ wird sie Priorin eines abgelegenen Klosters. Aus den Augen, aus dem Sinn der Herrscherin. Die hagere, ungelenke, viel zu groß gewachsene Frau soll einem Häufchen schlotternder und hungernder Nonnen vorstehen. Marie fühlt sich, als werde sie lebendig begraben. „Das Leben einer Nonne wirkt genauso schrecklich, wie sie es sich vorgestellt hat.“
Die US-amerikanische Autorin Lauren Groff erzählt von diesem Leben in ihrem neuen Roman „Matrix“. Der Schriftstellerin, 1978 im Bundesstaat New York geboren, gelingt in diesem Buch Erstaunliches: Zum einen bringt sie uns Marie unglaublich nahe, schildert eine Frau, die nicht im erwartbaren Sinn fromm ist, die aber einen starken Glauben (auch an das eigene Können) und eine besondere Gottesfürchtigkeit entwickelt. Zum anderen lässt Groff ihre Leserinnen und Leser tief ins mittelalterliche Klosterleben eintauchen, hat gewissenhaft recherchiert und anschaulich formuliert. Vor allem aber ist „Matrix“ eine mal mit Witz, mal mit Drastik geschriebene Emanzipationsgeschichte.
Denn Marie reißt sich „aus dem letzten Rest von Verzweiflungsstarre“ und übernimmt das Kommando. Dieser Entschluss aber markiert nicht nur ihre eigene Rettung, sondern auch die des Klosters. Unter der umsichtigen, energischen Leitung dieser außergewöhnlichen Frau wird es zu einem Ort des Wohlstands, des Miteinanders, des ursprünglichen Glaubens. Marie ist ein Segen für ihre Mitschwestern – und beim Lesen ist spürbar, wie viel Hingabe und Sehnsucht Lauren Groff in die Ausgestaltung dieser Utopie gelegt hat. Dabei hütet sie sich geschickt davor, ihre Protagonistin als Heilige zu porträtieren, gleichwohl manche Nonnen Marie so sehen. Doch die Schriftstellerin bleibt trotz allem skeptisch und findet immer wieder Gelegenheit, vom Ringen ihrer Priorin „mit dem Teufel, der ihr eigenes Gesicht trägt“, zu berichten. So ist „Matrix“ ein Roman, der von den vornehmen und den unangenehmen Seiten des Menschseins erzählt – und ein Buch, das eine wunderschöne Definition Gottes anbietet, jener „Stille jenseits des Wortes, in der die Unendlichkeit lebt“.
Lauren Groff:
„Matrix“. Aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs. Claassen Verlag, Berlin, 320 Seiten; 24 Euro.
Lesung: Lauren Groff stellt ihr Buch am Donnerstag, 15. September, 20.30 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter 01806/70 07 33 oder unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.