Auf dünnem Eis

von Redaktion

Zu Besuch beim Cirque du Soleil, der im November nach München kommt

VON CLAIRE WEISS

Ein rothaariges Mädchen flitzt übers Eis und tanzt Pirouetten, nur um dann samt Schlittschuhen aufs Trapez zu steigen. Sie wird in die Höhe gezogen, wo sie beginnt, ihre Tricks vorzuführen. Wie ein Korkenzieher dreht sie sich um die eigene Achse. Dann schwingt sie wie auf einer Schaukel im 180-Grad-Winkel, bis sie die Decke berühren könnte. Mit „Crystal“ ist dem weltweit größten Zirkusensemble etwas Neues gelungen. Erstmals verbindet der Cirque du Soleil klassische Zirkuselemente wie Akrobatik und Jonglage mit Eiskunstlauf. „Crystal“ ist dabei nicht nur der Name der Show, sondern auch der der Titelfigur. Sie ist eine kreative junge Frau, die von ihrer Familie missverstanden wird. Auf der Suche nach sich selbst rennt Crystal von zu Hause fort. Doch sie begibt sich auf einen zugefrorenen See, bricht durch die dünne Eisschicht und findet sich in einer Parallelwelt wieder. Dort trifft sie auf ihr Spiegelbild – eine zweite, selbstbewusste Crystal. Von ihr lernt die Protagonistin, dass ihr Anderssein keine Schwäche, sondern ihre Stärke ist.

Die 42. Kreation des Cirque du Soleil ist nach einer coronabedingten Pause nun wieder auf Welttournee. Wir besuchen das Ensemble in Boston. Bei einer Backstage-Führung treffen wir zufällig Stephanie Gasparoli, die aufgeschnappt hat, dass wir Deutsch sprechen. Sie ist eine der Artistinnen, die Crystal verkörpert. Stephanie ist Trapezkünstlerin und wurde erst vor sechs Wochen vom Cirque du Soleil angerufen. Zweieinhalb Jahre war sie während der Pandemie arbeitslos und wartete auf ein neues Engagement. Als Trapezkünstlerin war diese Zeit für Stephanie besonders schwer, denn sie konnte nicht einmal trainieren. „Ich brauche mindestens zehn Meter Höhe“, erklärt sie. Stattdessen sei sie regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen. Sie wollte körperlich jederzeit bereit sein, wieder auf der Bühne zu stehen. Als der Cirque du Soleil sie dann kontaktierte, sei sie „baff“ gewesen. „Es ist nicht selbstverständlich, dass man in dem Alter noch mal angerufen wird“, gesteht die 46-Jährige. Ihre Rolle tritt sie nun mit gemischten Gefühlen an. Zwar freut sie sich, nach so langer Pause hat sich aber auch eine Angst eingeschlichen. „Kann ich das noch?“, fragt sich die Schweizerin.

Die Eiskunstläuferin Stina Martini macht sich ebenfalls über das Alter Gedanken und das, obwohl sie erst Ende 20 ist. Als Zirkuskünstler arbeitet man eben intensiv mit dem Körper und irgendwann geht es einfach nicht mehr. Deshalb hat die Österreicherin bereits einen Plan B. Die Corona-Pandemie nutzte sie, um in ihrer Heimatstadt Graz Volksschullehramt zu studieren. „Das wollte ich schon immer machen, aber ich bin seit zehn Jahren auf Tour und das geht natürlich nur, wenn ich in Österreich bin“, erklärt sie und scherzt, dass sie ihr Studium nun wieder „auf Eis legen musste“. So lange es geht, lebt Stina ihren eigentlichen Traum: das Eiskunstlaufen. Das Publikum gebe ihr viel zurück. Zumindest, wenn das Ensemble nicht gerade auf Japan-Tour sei. „Da sind die Leute sehr ruhig. Sie klatschen eigentlich nur“, erinnert sich Stina.

In Boston hingegen leben die Zuschauer jeden Augenblick mit. Als einer der Eiskunstläufer von einer hohen Rampe springt, atmet das Publikum kollektiv hörbar ein. Als vier Artisten ungesichert an Metallstangen in der Höhe turnen und herumspringen, tönt ein Raunen durch die Menge. Solche Momente gibt es viele. Die Eiskunstläufer bringen eine Geschwindigkeit mit sich, die es so im Cirque du Soleil noch nie gab. „Sie nennen es Geschwindigkeit, ich nenne es frischen Atem“, verbessert Robert Tannion, der künstlerische Leiter. Er hat „Crystal“ kreiert und choreografiert. Es ist nicht nur seine erste „Cirque du Soleil“-, sondern auch seine erste Eis-Show. „Als echter Australier war ich 18, als ich zum ersten Mal Schnee gesehen habe“, sagt Robert. Das Eis gebe dem Zirkus eine neue Dimension, bringe neue Möglichkeiten mit sich. Aber auch Risiken: „Die Eiskunstläufer haben scharfe Klingen und wir haben Finger!“ Robert spielt mit der Gefahr als Teil seiner Kunst. Und genau das ist es, was die Show seiner Meinung nach einzigartig macht.

Im November kommt der Cirque du Soleil nach München. Vorher wird alles, was dazugehört, verpackt und nach Europa verschifft. Das erinnert an ein Tetris-Puzzle, denn jeder Gegenstand hat seinen festen Platz. Auch die Waschmaschinen und sogar der Schreibtisch der Pressesprecherin wird von Kontinent zu Kontinent gekarrt. 100 Ensemblemitglieder, darunter 44 Artisten, aber auch Köche und Physiotherapeuten, gehen mit auf Tour. Bleiben nur noch zwei Dinge: Unbedingt warm einpacken – am Eis ist es kalt. Und vor Beginn der Show ein Auge auf den Clown haben. 40 Schneebälle landen jede Vorführung im Publikum – nicht, dass einer davon Sie erwischt!

„Cirque du Soleil Crystal“

gastiert vom 3. bis 6. November in der Münchner Olympiahalle. Alle Informationen und Tickets unter www.ticketmaster.de sowie www.eventim.de.

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