Eine Überdosis Bollywood

von Redaktion

Mit Vincis „Alessandro nell’Indie“ glückt dem Festival Bayreuth Baroque ein Coup

Backpfeife auf die rechte Seite, und gleich hält der Mann noch seine linke hin: Was soll man machen mit einem Feldherrn, der so penetrant milde ist? So verzeihungssüchtig wie Alexander der Große, der gerade in Indien eingefallen ist, den dortigen König als Gegner sieht, nicht aber als zu massakrierenden Feind. Mit der Historie hat das wenig zu tun, es galt – wie es Pietro Metastasio in seinem Operntext tut – aktuelle Herrscher symbolisch zu verklären. Fast 80 Mal wurde das Libretto vertont, ein Bestseller. Der Erste war Leonardo Vinci (1690-1730), rund 300 Jahre wurde sein „Alessandro nell’Indie“ nicht gespielt.

Warum? Das ist nach der Wiederbelebung bei Bayreuth Baroque nicht ganz klar. Wahrscheinlich weil man es so gut machen und eine solche Ausnahmebesetzung zusammentrommeln muss wie Max Emanuel Cencic, Countertenor, Festivalchef und erneut als Regisseur (nicht aber auf der Bühne) aktiv. Im dritten Jahr seines exklusiven, höchstkarätigen Festspiels kommt es Corona-bedingt erst zur zweiten szenischen Produktion, und wieder glückt im Markgräflichen Opernhaus ein Coup. Weder satthören noch -sehen kann man sich in den fünf (!) Stunden inklusive Pause, die wie eine verfliegen.

Cencic gibt dem begeisterten Publikum mordsmäßig was auf die Augen. Für die opulenten Kostüme verschneiderte Giuseppe Palella Stoffe aus Italien und Indien. Ein glitzerndes, glamouröses, bauschendes Bollywood-Fest der Kleider, die hier (ob weibliche oder männliche Rolle) allesamt von Kerlen getragen werden. Höchst authentisch ist das: Während zur Uraufführungszeit die Geistlichkeit Sex in der Sakristei pflegte, verbot sie Frauen den Zugang zur Theaterbühne.

Doch keine plumpe Travestie, keine Dragqueen-Parade im weltweit schönsten Barocktheater. Cencic benutzt das alles für eine subtile, hintergründige Brechung des Stücks – und auch, um ein Zeichen in der von vielen billig bekämpften Gender-Thematik zu setzen. Denn wenn die Säfte steigen, ist es letztlich egal, wer was trägt und wer sich als was fühlt.

Die „Alessandro“-Handlung lässt sich kaum nacherzählen. Zwei Lager gibt es, das makedonische unter Alexander und das indische unter König Poro und seiner geliebten, ebenfalls königlichen Cleofide. Ständig kommt es zu grenzüberschreitenden Affären, Eifersüchteleien und Missverständnissen. Poros Schwester Erissena findet etwa Alessandro ziemlich hot, dessen Feldherr Timagene intrigiert unterdessen gegen den Chef und dient sich dem Feind an.

Wie im Barock üblich, werden die Verwicklungen zu Augenblicksausbrüchen genutzt. Wichtig ist der emotionale Moment, nicht unbedingt die Übersicht. Doch Cencic schafft das kleine Wunder: Man bleibt dran und versteht. Bewusst spielt er mit der Gestensprache des Barocktheaters. Die Figuren sonnen sich im Gezierten, hemmungslos darf an der Rampe, gern mit beifallheischendem Blick ins Publikum, gesungen werden. Doch macht das nichts, weil man stets augenzwinkernde Distanz spürt – und viele Arien durchs Männerballett (Choreografie: Sumon Rudra) belebt und kommentiert werden. Trotzdem öffnen sich immer wieder schwarze Löcher für Ernstes, Tiefgründiges. Ständig tänzelt diese Aufführung zwischen Tragödie und Revue und erfährt noch eine Extra-Brechung: Cencic lässt alles zur Zeit des britischen Königs George IV. spielen. Dieser Monarch liebte die Ausschweifungen und das Nachspielen von Theaterstücken. Und am liebsten gefiel er sich in der Hauptrolle: Alessandro/George gockelt also hier mit Backenbart und Schärpe durch den Royal Pavillon in Brighton, den Bühnenbildner Domenico Franchi nachgepuzzelt hat.

Auf mehreren klug verschachtelten Ebenen wird der Dreiakter in Bayreuth verhandelt. Cencic holt uns ab mit einer Überdosis Augenfutter inklusive goldenem Riesen-Phallus plus Elefanten-Hochräder und jubelt einem einiges zum Thema Kolonialismus, Machismo und Geschlechterdebatte unter. Am meisten vermischt sich Letzteres bei Bruno de Sá, der eine nie tuntige, erstaunlich glaubhafte Cleofilde gibt und dabei so singt, dass man ihn am liebsten als Susanna in Mozarts „Figaro“ besetzen möchte. Franco Fagioli als Poro behauptet sich in der Pole Position der Countertenöre. Offener, offensiver ist mittlerweile seine Tongebung, an der verblüffenden Virtuosität über drei Oktaven hat er nichts eingebüßt. Jake Arditti ist ein herrlich herbes Erissena-Biest, Maayan Licht als Alessandro ganz feinzeichnender Stilist, Nicholas Tamagna als Timagene und Charakter-Counter für Dramatisches zuständig. Stefan Sbonnik, als aufgekratzter Poro-Vertrauter Gandarte und Tenor, agiert an diesem Abend, eine Extra-Pointe, in der tiefsten Stimmlage.

Einzige Frau auf der Bühne ist – zumindest für eine Arien-Länge – Martyna Pastuszka. Als Solo-Geigerin und Sparringspartnerin begleitet sie da Franco Fagioli. Ansonsten befeuert sie im Graben ihr (oh!)Orkiestra. Das Bühnenfest der Farben spiegelt sich dabei in der Interpretation: Wer diesen nuancenprallen, hochtourigen, auch effektvoll widerborstigen Vinci hört, fällt als Händel-Jünger ab vom Glauben. Nur drei Aufführungen wurden während des Festivals angesetzt, noch gibt es keinen Kooperationspartner. Eine Sünde, würde diese Produktion nicht nachgespielt.

Weitere Aufführungen

am 9. und 11. September; Arte überträgt am 11. 9., 15 Uhr, danach in der Mediathek; das Festival (auch mit prominent besetzten Konzerten) dauert bis 18. 9.;

bayreuthbaroque.de.

Nur eine Frau

darf kurzzeitig

auf die Bühne

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