„Wie entsteht das Bild von einem Menschen?“, fragt das Münchner Volkstheater. Bei Heinrich Böll reichen vier Tage, um im Leben einer 27-Jährigen alles zu verändern. In seiner bekanntesten, auch heute brisanten Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von 1974, mit der Hausregisseur Philipp Arnold am 22. September die neue Saison einläuten wird, geht es um Hetze, Verleumdung, Shitstorm, um die haltlose, zerstörerische Gewalt der Medien.
Und auch die zweite Premiere der Spielzeit 2022/23 bleibt dicht am fremdgeprägten Menschenbild: Die abgrundtief skurrile Lebensgeschichte von „Pussy Sludge“ spielt jenseits aller Normen und Tabus mit Themen wie sozialer Vereinzelung und Geschlechterklischees. Mirjam Loibl bringt die junge US-amerikanische Autorin Gracie Gardner am 25. September erstmals auf eine deutschsprachige Bühne.
Kraftvoll feministisch geht es weiter, wenn am 28. Oktober „Feeling Faust“ den Mythos vom männlichen Geltungsstreben, basierend auf Goethes Hauptwerk, aus heutiger Sicht hinterfragt. Eine weitere Klassiker-Überschreibung von Claudia Bossard, die mit „Der Selbstmörder“ die vorige Spielzeit mit satirischer Energie aufgewirbelt hat. Und auch am 2. Dezember kommen Frauen an die Macht: Christina Tscharyiski kehrt ans Volkstheater zurück mit Ferdinand Schmalz’ „Hildensaga. Ein Königinnendrama“, der Abrechnung mit dem Nibelungenstoff aus weiblicher Sicht.
„Was, wenn Gott tot ist? Ist dann alles erlaubt?“, fragt Hausherr Christian Stückl mit Dostojewskis „Brüdern Karamasow“, die er am 25. November auf die Bühne 2 bringen wird (seine Februarproduktion fürs große Haus steht noch nicht fest). Das Gute inmitten des Bösen suchen … Gerade hat er alle Unwägbarkeiten des ersten Jahres im neuen Theaterbau Revue passieren lassen: den Wasserschaden, die 70 coronabedingten Veranstaltungsausfälle, die 73 000 statt 130 000 Zuschauer, die rein rechnerisch dennoch zu einer Auslastung von 88,2 Prozent geführt haben.
Die nächste Spielzeit werde nicht einfach, so Anton Biebl. Der Kulturreferent betont jedoch die Wertschätzung des Stadtrats für das „nahbare Theater“ im Schlachthofviertel. Die Stadt hat das beantragte Budget von 18,3 Millionen Euro genehmigt, nun heißt es damit zu jonglieren, etwa mit den horrend gestiegenen Herstellungskosten der Bühnenbildner oder mit der Auflage, 20 Prozent Energie einzusparen. Die Eintrittspreise bleiben von alledem unberührt.
Die elf Premieren (2021/22 waren es 14) locken vor allem mit schrägen Tönen: „8 ½ Millionen“ nach dem Roman von Tom McCarthy verhandelt die absurde Nachinszenierung von Realität und Identität (12.1.), und die Musikkomödien-Komplizen Bonn Park und Ben Roessler lassen ihre Uraufführung „Alles ist aus, aber wir haben ja uns“ als romantische Weltuntergangsutopie auf dem Meeresgrund spielen (27. Januar). Philipp Arnold inszeniert in „Revolution“ einen Gangster-Thriller nach Viktor Martinowitsch um die Verführung der Mächtigen (23. März), „Europa flieht nach Europa“ von Miru Miroslava Svolikova verspricht einen Revue-Ritt durch die europäische Geschichte (25. Mai), schließlich planen Nele Stuhler und Jan Koslowski eine schrille Diskurs-Komödie auf den 1890er-Schwank „Pension Schöller“ (9. Juni).
Noch im September eröffnen Peter Licht (25.9.) und Rocko Schamoni (28.9.) den Konzert- und Lesungsreigen. Dazu gesellen sich Poetry-Slam-Workshops, eine „Butterbrote Besseresser Oper“ mit 100 Münchner Kindern und Jugendlichen unter der Regie von Saphir Heller (5. November), am 9./10. Dezember kuratieren dann die Acher-Brüder von The Notwist ihr experimentelles Musikfestival „Alien Disko #5“. Das Festival „Radikal jung“ findet 2023 wieder bereits ab Ende April statt.