Als Amor Towles vor sechs Jahren „Ein Gentleman in Moskau“ veröffentlicht hat, war man als Leser fasziniert von einer ganz stillen, feinen, behutsamen Sprache, einer zärtlich-melancholischen Annäherung an einen aus der Zeit gefallenen Adeligen des Zarenreichs, der nach der Revolution 1917, seiner Güter beraubt, ein Leben im Hotel fristet. Und sich dennoch seine Neugier, seine Offenheit, seine Menschlichkeit und seine Würde ganz selbstverständlich bewahrt hat. Jetzt also Towles’ neuer Roman „Lincoln Highway“, der 1954 spielt. Heute liest der 57-jährige US-Autor daraus im Münchner Literaturhaus. Im Mittelpunkt stehen der 18-jährige Emmett, gerade aus dem Gefängnis entlassen, dessen kleiner Bruder Billy, dazu zwei Teenager-Knastbrüder, die aus dem Gefängnis fliehen konnten.
Emmett und Billy wollen nach dem Tod ihres unglücklichen Vaters ihre Mutter suchen – die hatte ihren Mann und ihre Söhne vor Jahren verlassen. Vermutet wird sie in San Francisco – und so wollen sich die beiden Söhne in Emmetts altem Studebaker auf den Weg machen und alles zurücklassen. Doch dann kommen die zwei entflohenen Kumpel dazu, und der Weg führt erst einmal nach New York. Erst einmal ist gut, denn ein Road-Roman ist das nun gar nicht. Unter Irrungen und Wirrungen gelangt man in den Big Apple, und hier begegnen unsere „Helden“ einem Panoptikum möglicher und unmöglicher Existenzen – gerne mit mythologischem Touch, schließlich liebt Billy Helden von Achilles bis zum Grafen von Monte Christo.
Der Romantitel „Lincoln Highway“, der sich auf die älteste, 1913 konzipierte US-amerikanische Autobahn bezieht, die von New York nach Kalifornien führt, ist vielmehr eine Reise ins Innere der vier Figuren. Amor Towles erzählt aus wechselnden Perspektiven (aber nur einer spricht in der Ich-Perspektive, der egomanische Duchess), leuchtet sein Personal wunderbar aus: Emmett, der heimliche Star, ein junger Mann voller Pflichtbewusstsein und Klugheit, der seinen kleinen Bruder über alles liebt; Billy, belesen, abenteuerlustig, voller Herz und Hirn, der geniale Züge zeigt; Duchess, der seine dunkle Kindheit nicht überwinden kann und hin- und hergerissen zwischen Kalkül und Liebesbedürfnis agiert; und der Vierte im Bunde, Wally. Ein entwaffnend naiver junger Mann, eine Art heiliger Narr, der aus der Welt gefallen ist.
Bei aller Liebe zu seinen Haupt- und Nebenfiguren, bei aller Detailverliebtheit und bei allen schönen, ergreifenden Szenen: Ein Wurf wie „Ein Gentleman in Moskau“ ist „Lincoln Highway“ nicht geworden. Als Leser fehlt einem das Doppelbödige, das Schillernde, das Delikate des Vorgängerromans. Aber vielleicht wollte Towles das gar nicht – erstens, weil es ja ein Buch über die ewige Reise ist unter dem Motto: Der Umweg ist das Ziel. Zweitens, weil die geradlinige Handlung schon fast nach einer Verfilmung schreit. Und drittens, ohne zu viel zu verraten: Eine Fortsetzung wäre rein inhaltlich durchaus denkbar. Ein unterhaltsames Buch, das schöne Stunden beschert. Aber Nachbeben? Weniger.
Amor Towles:
„Lincoln Highway“. Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Höbel, Hanser Verlag, München, 576 Seiten; 26 Euro.
Lesung: Amor Towles stellt sein Buch heute, 20 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter 01806/70 07 33 oder unter literaturhaus-muenchen.reservix.de.