Zärtlicher Blick in die Nischen

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Jan Faktor ist mit „Trottel“ ein aussichtsreicher Kandidat für den Buchpreis

VON SABINE DULTZ

Es ist – seit Thomas Brussigs „Helden wie wir“ – das heiterste, ernsteste, witzigste, das tiefsinnigste und zärtlichste Buch der vergangenen drei Jahrzehnte über das real-existierende sozialistische Ostblock-Leben zwischen Prag und Ostberlin. Kurz, es ist trotz der Form-Verliebtheit des Autors das realistischste Bild. Mit seinem Roman „Trottel“ hat der gebürtige Prager Jan Faktor (70), der 1978 der Liebe wegen in das DDRige Berlin übergesiedelt ist, in ungeschönter Schraffur die Nischen-Existenz der Überwachten und Bedrängten, der Lebenskünstler und Liebesspezialisten, der wahren Marxisten, Trotzkisten und Kultur-Existenzialisten literarisch gezeichnet.

Nachdem 1968 russische Panzer in die damalige Tschechoslowakei eingefallen und auf dem Wenzelsplatz den Prager Frühling blutig niedergewalzt und Land und Menschen in politische Lethargie gestürzt haben, begegnet dem damals 18-jährigen Ich-Erzähler auf eben jenem weltberühmten Boulevard eine Gruppe fröhlicher, attraktiver, extrem leicht bekleideter junger Leute. Ausgerechnet DDR-Menschen. So hatte er sich die nicht vorgestellt, und er fällt glatt in Ohnmacht. Nun wird erst einmal das Studium geschmissen. Es werden in aller Herrgottsfrühe Brötchen ausgefahren, die heimischen Bierlokale und Weinstuben des Abends erforscht. Aber vor allem werden die Deutsche Reichsbahn, die ihn immer öfter von Prag nach Ostberlin fährt, und ihre Duftnoten kennengelernt – bis er sich in der wohligen „Matratzeninternationale“ in einem der Abrisshäuser des Prenzlauer Bergs kommod einnistet.

In manchen Dingen fühlt er sich bestätigt in der Vorstellung, die man in Prag von der DDR hat: „Man fantasierte über das Phänomen DDR natürlich in alle Richtungen, konnte es aber nicht wirklich fassen – und die Fragen häuften und türmten sich. Hat das tüchtige DDR-Volk den großen Karl Marx etwa nur deswegen beim Wort genommen, weil dieser in der Landessprache schrieb? Ließ sich der DDR-Leibeigene – da er gleichzeitig ein Begriffssklave diverser anderer deutscher Grübelfürsten war – leichter dressieren als ein Ostmitteleuropäer? Hatten etwa die in der Plaste und Elaste enthaltenen Gifte aus Schkopau einen Anteil daran, dass irgendwelche Gedanken und Gehirnweichmacher ausgerechnet in der DDR so brutal zuschlagen konnten?“ Von den Abgründen unter den kaputten Dächern der Zone, wie der Autor das sozialistische Ländchen gerne nennt, hatten die Tschechen offenbar nichts gewusst. Dennoch kein Wunder, dass der Jan Faktor des Romans in Ostberlin mit dem Stempel „Der kleine tschechische Antikommunist“ versehen wurde.

Wer schon wollte die Wahrheit damals wirklich wissen? Und wer heute? Die Benennung der aktiven Spitzeltätigkeit der Rechtsanwälte ist noch immer bedrückend. Wie so vieles andere, was Faktor hier mit seinem grandiosen Humor, seinem Schwejkschen Hintersinn präsentiert und sich dabei selbst immer auch ironisch infrage stellt: „Aber warum erzähle ich diesen Quatsch überhaupt?“

Weil dieser „Quatsch“ eben in derart irrwitziger Form so tiefgreifend bislang noch nicht beschrieben wurde. Doch ein böhmischer Trottel – wie er sich selbst nennt – kann das, weil er sich den nötigen Abstand bewahrt hat. Und weil Jan Faktor, wenn es ganz ernst wird, alles Schalk- und Schwejkhafte, alle „Hackepeterprosa“ ablegt, wenn er den historischen Teil seines Romans immer wieder verbindet mit der privaten Tragödie seines Lebens, dem Selbstmord seines Sohnes. Vor zehn Jahren war der, zunehmend manisch-depressiv, vom Dach seines Wohnhauses gesprungen.

Vielleicht ist es diese nie endende Trauer, das versteckte, dennoch schonungslose Schuldgefühl, die den Autor zu manchen, mitunter auch lästigen stilistischen Übertreibungen führen sowie zu einer zu bewusst kalkulierten Scheinspontanität. Das alles könnte als der tragikomische Versuch gesehen werden, diese Lebenskatastrophe in Demut anzunehmen, um den Rest der eigenen Jahre zu bestehen.

Der exzessiven Verwendung von Fußnoten, die wohl auch dazugehört, kann man folgen oder nicht. Bei Verzicht jedenfalls nimmt der Roman keinen Schaden. Er bleibt auch dann noch mit Recht ein aussichtsreicher Kandidat für den Deutschen Buchpreis (siehe Kasten).

Jan Faktor:

„Trottel“. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 397 Seiten; 24 Euro.

Jan Faktor erzählt vom Leben im Ostblock

Der Autor nutzt Fußnoten, denen man folgen kann

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