Räuber und Beraubte vereint

von Redaktion

PREMIERENKRITIK „Les statues rêvent aussi“ an den Kammerspielen

VON ALEXANDER ALTMANN

Wenn in China der sprichwörtliche Sack Reis umfällt, lässt uns das bekanntlich kalt. Wenn es hingegen in Lomé, der Hauptstadt von Togo, einen kurzen Regenschauer gibt, dann beginnt die Aufführung an den Münchner Kammerspielen mit zehn Minuten Verspätung. So war es jedenfalls bei der Premiere des Projekts „Les statues rêvent aussi. Vision einer Rückkehr“, das Choreograf Serge Aimé Coulibaly, Kammerspiel-Hausregisseur Jan-Christoph Gockel und das Ensemble gemeinsam erarbeitet haben.

Aber was nach Regenzauber mit magischer Fernwirkung klingt, hat ganz natürliche Ursachen. Das Stück ist ein logistisch und technisch (auch probentechnisch) ungeheuer aufwendiges Unternehmen, weil die Vorstellung auf zwei Orte verteilt simultan stattfindet: in der Therese-Giehse-Halle der Kammerspiele und im Garten des Musée Paul Ahyi im westafrikanischen Lomé, wobei das Geschehen an beiden Spielorten eben live an den jeweils anderen übertragen wird. Auf diese Weise sehen die Zuschauer hier und dort die Aufführung praktisch gemeinsam – und sich gegenseitig, wie sie sich zuwinken, obwohl sie 7000 Kilometer von einander entfernt sitzen.

So etwas vermittelt immer ein leicht ergreifendes Gefühl von Menschheitsfamilie, das hier aber nie in Sentimentalität rutscht, sondern beiderseits von Humor getragen wird. Und das, obwohl sich da ja die Nachfahren von Beraubten mit den Nachfahren der Räuber via Bildschirm begegnen, denn schließlich geht es an dem Abend um Raubkunst im weitesten Sinn: Skizzenhaft erzählt das Stück die Geschichte oder, wenn man so sagen kann, die Perspektive einer fiktiven westafrikanischen Statue aus dem 12. Jahrhundert, die in einem europäischen Museumsdepot schlummert. Ihren Auftritt hat sie in Gestalt einer wunderbar anmutigen Marionette, gebaut von Michael Pietsch und Yakouba Magassouba.

Damit der Kulturgüter-Klau durch die Kolonialmächte aber vor lauter Puppen-Poesie nicht vergessen wird, erfahren wir dann im erklärenden Teil des Abends, dass sich schätzungsweise 95 Prozent aller historischen Kunstschätze Afrikas im Besitz europäischer Museen befinden sollen. Die Bühne (Julia Kurzweg) stellt folglich auch Depot-Atmosphäre nach mit Holzpaletten und Metallregalen voller vernagelter Kisten.

Zum Glück macht der Abend aber nicht bloß didaktisch die Kolonialismus-Kiste auf, sondern scheint – zumindest aus unserer europäischen Warte – in seinen besten Momenten szenische und körpersprachliche Entsprechungen zu finden für das, was der große Ethnologe Claude Lévi-Strauss „wildes Denken“ nannte: In grell-surrealen, (alb-)traumartigen Szenen werden unter dissonantem Krachen und Rumpeln die Depot-Stücke umgeräumt, die (schwarzen und weißen) Darsteller treten in Museumswärter-Uniformen auf, ein Gabelstapler schnurrt über die Bühne, die Tänzerin Ida Faho versteckt sich in einer Holzkiste, auf durchsichtiger Riesenleinwand überblenden sich Live-Streamingszenen und analoges Bühnengeschehen.

Dazu gellt hart getaktete Musik (Sven Kacirek) ohrenbetäubend aus den Boxen, wird abgelöst von knisterndem Sirren, Stroboskoplichter blitzen, Tänzerinnen in prächtig-bunten Gewändern zucken mal abgehackt, mal konvulsivisch, und endlich mündet alles in eine saukomische, linkisch „stotternde“ Verrenkungs-Pantomime sämtlicher Beteiligten.

Dieser Drall ins Absurde hätte noch deutlich stärker sein dürfen, um eine Gefahr zu bannen, die trotz (oder wegen) bester Absichten stets in solchen Projekten lauert: als bloße Emanzipationsattrappen das Bestehende zu zementieren. Zerknirschtes Bedauern einstiger ideeller Enteignung Afrikas wirkt unaufrichtig, solange es ein Schweigen über die gleichzeitige materielle Enteignung in der Gegenwart einschließt. So werden Debatten über den Kolonialismus automatisch zur wohlfeilen Gerechtigkeits-Show, die vom Neokolonialismus der Gegenwart ablenkt. Kritiker führen beispielsweise immer wieder ins Feld, dass eine erpresserische Zoll- und Handelspolitik der EU afrikanische Staaten zu Billigimporten aus Europa zwinge, die die heimische Landwirtschaft in Afrika kaputtkonkurrieren – was wiederum die verarmten Bauern zur Flucht nach Europa treibe, wo sie als „Wirtschaftsflüchtlinge“ geschmäht werden.

Freuen darf man sich natürlich trotzdem über dieses gelungene Fern-Theater-Experiment. Und so gab’s am Ende verdiente Standing Ovations, auch für die Techniker.

Weitere Vorstellungen

am 18., 21., 22., 23., 26. und 27. Oktober; Telefon 089/23 39 66 00.

Aufführung läuft simultan in Lomé und München

Artikel 7 von 8