Heimatministerium, das ist in gewisser Weise ein deutscher Tiefpunkt. Als ob sich das schützen ließe, was jeder anders versteht. Denn die dunkle Seite der Heimat-Debatte ist: Ausgrenzung, Frontenbildung. Und Heimatlosigkeit muss nicht nur schicke Selbstdefinition von Kosmopoliten sein – sie kann auch verordnet oder schlimmes Schicksal sein, man werfe einen Blick auf die gerade wieder entstehenden Abschiebeheime. Und dies alles soll auch noch für die CD eines Opernsängers taugen?
Ein eindeutiges Ja. Man kann bei diesem komplexen, heimeligen bis heiklen Thema sogar Ernst mit Intelligenz und Augenzwinkern verbinden. Daniel Behle führt es vor, auf seinem übrigens 18. Solo-Album. Der Mann glaubt auf sympathische bis rettungslos optimistische Weise an die CD. Und seine Konzeptscheiben, die nie ins Zeigefingern geraten, sondern über Horizonte blicken und Altes neu hören, sind der Beweis, wie man das Medium retten kann. „Heimat“ steuert in dieser Reihe nun auf einen Höhepunkt zu. Mit dem Münchner Komponisten und Arrangeur Alexander Krampe kreist Behle das Thema mit 39 Beweisstücken ein, die mindestens ebenso viele Antworten auf die Frage liefern: Was bedeutet Heimat überhaupt?
„Ein Stück Erde, ein Stück Himmel“ kann das sein wie im Lied von Mischa Spoliansky, die Kurpfalz des Jägers, die „Wälder meiner Kindheit“ wie in Hanns Eislers Hölderlin-Vertonung, Lohengrins Gral-Welt oder, wie es Behle in einem selbstgetexteten und -komponierten Lied singt: „Dort, wo der Schlüssel passt“ – mit seinen typischen Kalauerzeilen à la „Auch im Tipireservat ist das Pipimachen fad“.
Vor der diffusen Hitparade bewahrt noch etwas anderes. Alle Nummern werden begleitet vom Quartett German Hornsound. Die meisten Arrangements stammen von Krampe. Das ist nicht als klangliche Pointen-Sause gemeint, sondern vielmehr behutsame, vielsagende Verfremdung, eine musikalische Annäherung aus ungewohnter Perspektive. Manches wie Schuberts „Erlkönig“ erfährt eine synkopierte, jazzig-ironische Brechung, „Kommt ein Vogel geflogen“ einen modernen Touch. „Im Frühtau zu Berge“ tönt nach „Freischütz“-Jägerchor. Und die Paradenummer Lohengrins (die der lyrisch erzogene Behle an immer mehr Opernhäusern singt) ist plötzlich ganz intime, melancholische Erzählung, nicht tenorale Verlautbarung.
Gesungen ist das alles, eben typisch Behle, ganz hervorragend. Mit geschmeidigem, locker ansprechendem Tenor, der sich auch mal zur Dramatik hochfahren lässt. Doch, und das ist das größte Plus dieser Doppel-CD: Nie dringt auch nur ein Klangfunken Kitsch aus den Lautsprechern. Behle nimmt Volksliedhaftes entwaffnend ernst, gestaltet das grundehrlich, ohne Drücker, wenn nötig mit unverfälschtem, unbeflecktem Pathos – und wahrt doch immer ein Quäntchen aparte, wie „unausgesprochene“ Distanz. Vor allem aber ist da ein großes Stilbewusstsein, das Behle weit über seine Komfortzone hinausträgt – an „Heimat“ von Popsänger Johannes Oerding dürften sich andere Tenöre eher weniger trauen.
Zu jeder Nummer gibt es knappe, erhellende Erklärungen Alexander Krampes. Überhaupt ist das eine sehr aufwendig aufgemachte CD mit ausführlichem Booklet. Auch das zeigt, wie dieses Medium dem Markt erhalten werden kann. Weiterer Clou und Coup sind die Zwischentexte. Die werden von Mario Adorf gelesen. Die 92-jährige Schauspieler-Legende trägt Verse unter anderem von Hölderlin, Grillparzer, Nietzsche oder Bettina von Arnim vor. Mit nachdenklichem, oft auch ungebrochen jugendlichem Tonfall.
Nicht nur hier, sondern bei vielen musikalischen Nummern wird es sehr ernst. Denn in seiner Repertoire-Auswahl treibt es das Duo Behle/Krampe auch in heikle Bereiche. „Unsere Heimat“ von Hans Naumilkat, das in der DDR so gern gesungene FDJ-Lied, ist dabei, aber auch das „Lied der Flüchtlinge“ von Werner Eisbrenner. Und manchmal schnürt es einem alles zu, wenn Behle „Ein neuer Frühling wird in die Heimat kommen“ der Comedian Harmonists, ein problematischer Schwamm-drüber-Marsch, an das „Buchenwald-Lied“ von Hermann Leopoldi schneidet. Gerade weil dies Behle so natürlich, vollkommen untheatralisch und direkt singt, ist die Wirkung umso größer. Ein Album also, das zum Intelligentesten gehört, das 2022 erschienen ist. Und das die einzig mögliche Antwort auf die Frage „Was ist Heimat?“ liefert: Kommt ganz darauf an.
„Heimat“.
Daniel Behle, Mario Adorf, German Hornsound (Prospero); Konzerttermine: 9.12. Stuttgart/Liederhalle, 10.12. Alte Oper/Frankfurt, 11.12. Elbphilharmonie.