Flammen der Veränderung

von Redaktion

Martin Mosebach legt mit „Taube und Wildente“ einen lesenswerten neuen Roman vor

VON SABINE DULTZ

Wer ist hier Taube? Wer die Wildente? Wer hat die auf der Jagd einst erlegten Tiere so aufgefädelt, sodass sie schwer kopfüber an der Wand hängen? Wer ist der Schöpfer dieses Gemäldes? Und wer überhaupt hat es einst erworben, um dessen möglichen Verkauf sich jetzt eine Ehe, eine Familie, ein längst überholtes und der Wahrheit sich entziehendes gesellschaftliches Gebilde auflöst? Dem geht in seinem soeben erschienenen Roman „Taube und Wildente“ der hoch geehrte wie auch oft geschmähte Schriftsteller und Büchner-Preisträger Martin Mosebach (71) nach.

Am Ende der Geschichte geben die sehr distanziert miteinander lebenden Eheleute ein Bild ab wie das tote, an einem Strang aufgefädelte Gefieder, matt schimmernd, irgendwie schön und zur Schau gestellt durch die hohe Kunst eines längst vergessenen, vermeintlich unmodernen, altmodischen Malers des 19. Jahrhunderts.

„Tote Feldtaube und Wildente“ heißt das Stillleben aus dem Jahr 1884 von Otto Scholderer, abgebildet auf der letzten Seite des Buches. In der Familie Dalandt ein ungeliebtes, unbeachtetes Werk, das Marjorie, die Hausherrin des großzügigen Anwesens La Chaumière in der Provence, von Großvater und Vater geerbt hat. Der gesamte andere Besitz wie einige grandiose Impressionisten oder eben diese historische Immobilie gingen an namhafte Pariser Museen sowie an die Familienstiftung.

Doch nie stand außer Frage, dass Marjorie mit ihrem zweiten Ehemann Ruprecht Dalandt, einem ziemlich attraktiven Frankfurter Verleger von Kunst- und philosophisch-schöngeistigen Büchern und selbst Verfasser derartiger Essays, die Sommermonate in ihrem Elternhaus verleben würde. Mit dabei: ihre Tochter Paula aus erster Ehe, deren kleine Tochter, zu der Großmutter Marjorie ein offenbar gestörtes Verhältnis hat, und der aktuelle Lebensgefährte Paulas. Täglich kommen dazu der sogenannte Verwalter Damien aus dem Pförtnerhaus, ein Mitarbeiter und eine Mitarbeiterin aus dem Verlag in Frankfurt, ein in seinen Hund verliebter deutscher Arzt aus dem Nachbardorf und das immer übel gelaunte portugiesische Hausmeisterpaar. Etikette wird großgeschrieben. Sie ist oberstes Gesetz, so wie es Marjories Vater einst festgelegt hat. Zelebriert wird ein herrschaftliches Leben wie vor 100 Jahren. Doch unter dem schönen Schein großbürgerlicher Wohlhabenheit und Toleranz lauert Verbotenes – Liebessehnsucht und Liebesverachtung, Lüge und Betrug, die Gier nach Geld –, dem man beim Lesen mit einigem Vergnügen nach und nach auf die Schliche kommt.

Was hat es auf sich mit besagtem Gemälde? Bis dato hing es ungeliebt und unbeachtet im Esszimmer. Jetzt, da ihr der Verwalter und Gefälligkeitsmaler Damien aus dem Pförtnerhaus weisgemacht hat, dass die schöne Villa, wenn sie nicht in der nächsten Zeit des großen Regens zusammenbrechen soll, umgehend saniert werden müsse, jetzt, da also Marjorie zwecks Geldbeschaffung „Taube und Wildente“ verkaufen will, macht sich ihr smarter, weißhaariger, sonst eher zurückhaltender Gatte Ruprecht mit einem leidenschaftlichen Plädoyer stark für dieses Kunstwerk. Er wird es kaufen.

Was sieht er plötzlich in diesem Bild? Nicht den künstlerisch uninteressanten Schlussstrich einer Epoche, sondern jenen bislang unentdeckten kleinen zinnoberroten Punkt auf dem Schnabel des Taubenkopfes: „…ein Zeugnis des Genies. Die getötete Natur empfing von hier aus ein neues, verändertes Leben.“ Für Ruprecht „ein Ereignis, in dem die Tradition das Neue aus sich heraus gebar“. Dieses Gemälde liefert den Bezug zu seinem eigenen alten Leben, zum Leben dieser Menschen in dem Sommerhaus. Und wenn man ganz kühn sein will, ließe sich sagen, dass es auch den Bezugspunkt des Autors gegenüber seinen Romanfiguren darstellt.

Zum Finale geht das Bild in Flammen auf. Doch bedeutet das nicht das Ende, sondern vielmehr eine Änderung. Eine Zeitenwende für diese Menschen, die in ihrer sinnlichen Präsenz so betörend wie lächerlich und abstoßend zugleich sind, in ihren Erwartungen ans Leben, für das sie luxuriös und hochmütig nichts tun, für das sie jedoch lieben, leiden und lügen.

Aber kommen sie einem nicht irgendwie auch altbekannt vor? Ein bisschen Tschechow steckt in ihnen allen. Das macht diesen mit wahrer Meisterschaft verfassten Roman so lesens- und erlebenswert. Wer hier Taube, wer Wildente ist, muss allerdings jede Leserin, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Martin Mosebach:

„Taube und Wildente“. dtv Verlagsgesellschaft, München, 333 S.; 24 Euro.

Lesung: Martin Mosebach stellt sein Buch am 28. Oktober, 20 Uhr, im Münchner Literaturhaus, Salvatorplatz 1, vor; Karten unter 01806/70 07 33 oder unter literaturhaus- muenchen.reservix.de.

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