Spektakel für die Ohren

von Redaktion

Jean-Michel Jarres neues Album „Oxymore“

VON JÖRG HEINRICH

Im nicht mehr ganz jugendlichen Alter ist Frankreichs Elektronik-Großmeister Jean-Michel Jarre neugieriger und umtriebiger denn je. Für sein Großprojekt „Electronica 1 und 2“ arbeitete der mittlerweile 74-Jährige unter anderem mit The Who-Gitarrist Pete Townshend, mit den Pet Shop Boys und mit Whistleblower Edward Snowden zusammen. Ergebnis waren die beiden spannendsten Jarre-Alben seit Jahren und eine Grammy-Nominierung. Das Jahr 2021 begrüßte JMJ mit einem spektakulären Mitternachts-Konzert in der virtuellen Nachbildung der durch ein Feuer schwer beschädigten Pariser Kathedrale Notre Dame. Und mit seinem 22. Studio-Album „Oxymore“, das heute erscheint, würdigt Jean-Michel Jarre jetzt einen Mann, der noch mehr Pionier war als er selbst – falls das überhaupt möglich ist.

Denn als der Sohn von Filmkomponist Maurice Jarre 1976 mit „Oxygène“ und 1978 mit „Équinoxe“ den Synthesizer-Pop revolutionierte, konnte er sich auf ein großes Vorbild berufen, auf Pierre Henry. Der 1927 geborene Franzose gilt als Wegbereiter der elektronischen Musik – und zusammen mit Karlheinz Stockhausen als einer der Väter des Techno. Pierre Henry setzte Musik aus Schallplatten-Samples neu zusammen, fand spät zum Rock und komponierte Sound-Jingles für die Straßenbahn im elsässischen Mülhausen. Um diesen musikalischen Abenteurer geht es auf „Oxymore“.

Eigentlich hatte Jean-Michel Jarre ursprünglich geplant, für „Electronica“ auch mit genau diesem Pierre Henry zusammenzuarbeiten: „Dann wurde er jedoch leider sehr krank und starb, und wir haben es nie getan, wir kamen nicht mehr dazu. Ich war sehr bewegt, als ich erfuhr, dass er mir einige Sounds für ein zukünftiges Projekt hinterlassen hatte.“ Nun wird der 2017 mit 89 Jahren verstorbene Pierre Henry wieder lebendig – mit seinen Klängen auf dem faszinierenden neuen Album von Jean-Michel Jarre, das sich so anders anhört als sein klassischer Synthie-Sound.

Denn Pierre Henry gilt auch als Miterfinder der „Musique concrète“, die nicht mit Instrumenten arbeitet, sondern mit Klängen aus unserer Umwelt, aus dem Alltag, aus allen nur denkbaren Quellen. Solche Collagen prägen auch „Oxymore“, dem Jarre im Internet die virtuelle Stadt „Oxyville“ zur Seite stellt. Schon beim Auftaktstück „Agora“ prasselt Feuer, der Regen tropft, und Henry spricht in einer alten Aufnahme über seine Regeln fürs Komponieren.

Die Samples ziehen sich als musikalische Kuriositätensammlung durch die Platte, mal versponnen („Synthy Sisters“) und mal als deftiger Techno wie in der Single „Brutalism“. „Ich wollte, dass Pierre Henry wie eine Art verrückter Geist überall auf dem Album zugegen ist und sein Unwesen treibt“, hatte sich Jean-Michel Jarre vorgenommen. Und das ist ihm prächtig gelungen – vor allem im binauralen 3-D-Mix, bei dem die Sounds aus allen Richtungen auf den Zuhörer einstürmen. Mit Kopfhörern ist der 360-Grad-Jarre ein Ohren-Spektakel, das dem großen ganz sicher Pierre Henry ausnehmend gut gefallen hätte.

Jean-Michel Jarre:

„Oxymore“ (Columbia/ Sony Music).

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