Anders sein dürfen. Sich nicht anpassen müssen. Selbst entscheiden können, wie und mit wem und als wer man leben will. Klingt heute alles selbstverständlich. War aber bekanntlich nicht immer so. Und ist es leider in vielen Ländern nach wie vor nicht. Eine Beschäftigung mit den sehr unterschiedlichen Opfergruppen des Nationalsozialismus kommt in der Dauerausstellung des Münchner NS-Dokuzentrums etwas zu kurz. Um das auszugleichen, gab es bereits Sonderausstellungen zu der Verfolgung von Roma und Sinti oder der Zeugen Jehovas.
Nun befasst sich das Wissenschaftlerteam um Direktorin Mirjam Zadoff erstmals und ausführlich mit den homo- und transsexuellen Opfern des „Dritten Reichs“. Die Ausstellung „To Be Seen. Queer Lives 1900-1950“ nimmt das Leben von LGBTIQ* in Deutschland von der letzten Jahrhundertwende bis in die Mitte der Fünfzigerjahre in den Blick.
Wie genau lebten homo- oder transsexuelle Menschen damals? „To Be Seen“ zeigt, unterstützt von umfangreichem Material, die enorme Vielfalt diverser Biografien von Kaiserreich über Weimarer Republik und Hitler-Regime bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik. Wichtigster Akzent der Ausstellung ist dabei der Kampf um die Selbstermächtigung durch die Epochen hinweg, in denen fluide Identitäten viele Freiheiten genießen konnten wie in den „Goldenen Zwanzigern“, noch dazu in Großstädten wie Berlin mit seiner schillernden Subkultur. Daneben gab es repressive bis grausame Phasen wie in der braunen Zeit.
Jede Menge bewegte Lebensläufe sind hier nachzuvollziehen. Weit spannt sich der Bogen von lesbischen Frauenrechtlerinnen wie der Münchnerin Anita Augspurg zu Magnus Hirschfeld und seinem 1919 gegründeten „Institut für Sexualwissenschaft“ in Berlin. Das wurde am 6. Mai 1933 von den Nazis geplündert und verwüstet. Ein Jahr später eröffnete Hitler mit der Ermordung seines einzigen Duz-Freundes, dem für damalige Verhältnisse fast schon offen schwulen SA-Chef Ernst Röhm, die erbarmungslose Jagd auf alle Homo- und Transsexuellen. Auch der spätere Widerstandskämpfer Hans Scholl, Mitglied der „Weißen Rose“, geriet während seiner HJ-Zeit 1937 ins Visier der Sittenwächter und für zwei Wochen ins Gefängnis.
Gleichzeitig behält „To Be Seen“ den Alltag von Trans- und Homosexuellen im Blick, der noch in der Nachkriegszeit deutlich anders aussah als der von ihre Diversität auslebenden Künstlern wie den Geschwistern Klaus und Erika Mann. „Wird aus diesem Krieg eine Welt entstehen, in der Menschen meiner Art leben und wirken können? In einer Welt des Friedens und der internationalen Zusammenarbeit wird man uns brauchen; in einer Welt des Chauvinismus, der Dummheit, der Gewalt gäbe es keinen Platz, keine Funktion für uns“, ahnte 1942 Klaus Mann in „Der Wendepunkt“.
Bis zum Jahr 1994 stellte der Paragraf 175 in Deutschland Homosexualität unter Strafe. „Jetzt aber ist die Zeit da, wo wir uns selbst helfen müssen. Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Werdet stolz auf eure Homosexualität! Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen!“, forderte der Filmemacher Rosa von Praunheim zwar schon 1971. Doch es dauert noch Jahrzehnte, ehe sich die Verhältnisse tatsächlich änderten.
Als sich 1990 in der ARD-Serie „Lindenstraße“ erstmals ein schwules Paar küsste, gab es neben landesweiter Empörung sogar Bombendrohungen. 2001 erlaubten die Niederlande als erstes Land der Welt die gleichgeschlechtliche Ehe. In Deutschland war man erst 2017 so weit. Aber 2021 wurden mit Nyke Slawik und Tessa Ganserer zwei bekennend trans lebende Menschen in den Bundestag gewählt. Davon konnten beispielsweise der von Alexej von Jawlensky porträtierte Tänzer Alexander Sacharoff, der 1914 zum Schein noch eine Frau heiraten musste, oder Lili Elbe, die erste geschlechtsangleichend operierte Transperson der Welt, nur träumen.
Bis 21. Mai 2023,
Di.-So., 10-19 Uhr,
Max-Mannheimer-Platz 1,
Telefon 089/23 36 70 00.