Das Datum der Beerdigung des Sohnes wurde zum Datum des eigenen Todes. Hugo von Hofmannsthal, 1874 geboren, starb am 15. Juli 1929, zwei Tage nach dem Suizid seines Buben. Zwei Jahre zuvor hatte der Dichter sich noch einmal, fürs Theater, mit einer Vater-Sohn-Geschichte beschäftigt. Einer, in der sich der Alte nicht um den Jungen grämt, sondern in der er sein Kind von Geburt an sadistisch zerstört. Hofmannsthals Tragödie „Der Turm“ nach Calderóns „Das Leben – ein Traum“ (1635) hatte am Freitagabend im Münchner Residenztheater Premiere.
Das Motiv des ausgesetzten Kindes ist aus Mythos und Märchen bekannt. Der Tabubruch, den Eltern begehen, die Schicksalsgläubigkeit, das unglaubliche Überleben des Nachwuchses, all das fasziniert. Der österreichische Schriftsteller setzte sich in den Zwanzigern jahrelang damit auseinander. In einer Ära, in der das riesige Habsburger-Reich ausgetilgt und ein verarmtes Winz-Österreich übrig geblieben war, in der politische (Monarchie), religiöse, seelische (Freud), physikalische (Einstein) und ökonomische (Weltwirtschaftskrise) Gewissheiten verloren waren, suchte Hofmannsthal in uraltem Wissen einen Anker. An dem hielt er sich fest, um eine aktuelle Aussage machen zu können, die zugleich über ihre Zeit hinaus Gültigkeit behalten könnte.
Dieser Haltung vertrauen Regisseurin Nora Schlocker und Dramaturgin Constanze Kargl mit ihrem Team. Und vertrauen auf ihr Publikum, auf dass es sich von der nicht ganz leichten Kost positiv herausfordern lasse. Dazu haben die Frauen das Stück nicht nur auf rund 100 Minuten, sondern auch inhaltlich klug eingedampft. Die immer noch vielen Rollen werden von einer Truppe von sechs Leuten gespielt. Das stücktragende Bühnenbild (Irina Schicketanz) besteht aus dem Halbrund des Turms, in dem Prinz Sigismund vegetiert. Akzente setzen ab und an bedrohliche Videoprojektionen (Sven Zellner), aber klar bleibt: Alle, die einer Macht unterworfen sind, und alle, die nach Macht gieren, sind in einem Turm gefangen.
Zum Dramenauftakt reden ein paar Soldaten über die „Kreatur“, bevor wir sie in schwachem Licht hoch oben an der Wand erahnen: eine Larve im Plastik-Kokon, den sie erst abwerfen muss. Herauskommt der nackte Leidensmensch, den Hofmannsthal immer wieder mit der Gestalt Jesu korreliert. Lisa Stiegler spielt berührend die Urangst alles Lebendigen, die philosophischen Fragen nach dem Ich, den anderen, Gott – und denen nach Gewalt und Macht. Sie und Schlocker lassen die Figur nie zum strahlenden Prinzen werden. Sie bleibt bloß und verwundbar, trotz eines tierischen Wutausbruchs. Schutz findet sie in sich selbst.
Michael Goldberg arbeitet bei seinem König Basilius, gewandet als schrille, weiße Tüllwolke (schön schräge Kostüme: Bettina Werner), genüsslich das Gegenteil heraus. Seine Schuld am Volk (Krieg, Hunger) und Sohn ignoriert er. Religion ist Heuchelei. Ihm geht es lediglich um Macht und das eigene Wohlergehen. Er ist die lächerlich brüchige Spitze des abgetauten Eisbergs Monarchie. Aber auch die Revolution wird nur an der Oberfläche anders sein, wie Olivier (Valentino Dalle Mura) deutlich macht. Er ahmt den Höfling Julian nach, Gouverneur des Turms. Dessen Intriganz ist bei Katja Jung nicht gut aufgehoben; sie hat eine zu sympathische Ausstrahlung.
Die menschlichsten und schwersten Texte hat Thiemo Strutzenberger als mitleidiger Arzt und scharf sezierender Ignatius (aufwühlender Gottes-Begriff). Sie sitzen aller-dings (noch) nicht so, dass das Publikum deren Wucht spürt. Zu den wenigen Anständigen im „Turm“ zählt außerdem der Diener Anton. Johannes Nussbaum nimmt Hofmannsthals wunderbare Vorlage charmant, indes zu bescheiden auf; ein bisserl mehr Komödiantik dürft’ schon sein. Freundlicher Applaus.
Nächste Vorstellungen
am 25., 31. Oktober sowie am 3., 8., 9. November und am 2. Dezember; Telefon 089/21 85 19 40.