Ausgeliefertsein, Begehren, Demut, Fassungslosigkeit, Glück, Heuchelei, Innigkeit, Jugend, Kaltblütigkeit – Leben. Prall, oft schrecklich und noch öfter schrecklich schön. Alles Menschliche, auch Allzumenschliche findet sich in der Kunst. Und in dem herausragenden Buch, das Bernhard Maaz geschrieben hat. Der Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen hatte wie so viele während der Lockdowns 2020 ein bisschen mehr Zeit als sonst zur Verfügung. „Ich hatte keine Hunde auszuführen oder Katzen zu streicheln – also habe ich geschrieben“, meint er schmunzelnd am Freitagmittag in der Sammlung Schack.
Er ist zusammen mit Verleger Thomas Zuhr gekommen, um einen ziemlichen Brocken vorzustellen: zwei Bände über die bayerischen Kunstschätze; 1416 Seiten, 1040 Abbildungen, eine Zeitspanne vom Mittelalter bis zur Moderne. Doch dieses gewaltige Werk, das auf dem Heimweg in einer Tasche am Fahrradlenker baumelnd ziemlich für Schlagseite sorgt, kommt zu Hause dann erstaunlich leicht daher. Schon nach den ersten Seiten ist da ganz viel Vorfreude. Darauf, dass es abends jetzt früher dunkel und das Wetter mieser wird. Und man in diesen zwei Büchern etwas gefunden hat, womit man sich hemmungslos träge in eine Decke eingemummelt zurückziehen kann. Der Welt entfliehen – und gleichzeitig ganz und gar in ihr abtauchen. Denn gelungene Kunst bildet das Weltgeschehen ja nicht bloß ab; sondern nimmt vorweg, verarbeitet, überprüft. Und lässt einen, wenn sie mit Wärme gemacht ist, niemals kalt.
25 000 Werke besitzen die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Ein irrsinniger Schatz, der weltweit bekannt ist. Und dann wieder nicht. Selbst Münchner Kindl kennen und schätzen womöglich zwar die Alte und die Neue Pinakothek, die Sammlung Moderne Kunst, die Sammlungen Schack und Brandhorst – aber wie oft verschlägt es sie in die rund ein Dutzend Staatsgalerien, die bayernweit ebenfalls Kostbarkeiten der Sammlung bewahren und präsentieren? Und wer weiß um die tausenden Dauerleihgaben an etlichen Orten oder die vielen Werke, die in den Depots lagern? „Die in diesen Bildern verhandelten menschheitlichen und künstlerischen Fragestellungen sind schier unerschöpflich. Ihnen gilt das Augenmerk des Buches“, schreibt Maaz in seinem Vorwort. Man könnte auch sagen: Der Chef höchstpersönlich macht hier Werbung dafür, einmal die Stadtgrenzen zu verlassen und beispielsweise in der Staatsgalerie der Residenz Ansbach, dem Olaf-Gulbransson-Museum in Tegernsee, der Staatsgalerie im Neuen Schloss Bayreuth vorbeizuschauen.
Oder man bleibt einfach daheim. Leselampe an und losgeflogen auf die Zeitreise durch die Jahrhunderte. Ein „Museum für zu Hause“ nennt Zuhr treffend das Buch. Grafisch ansprechend und lesefreundlich aufbereitet, muss man erst einmal nichts weiter tun, als hinzuschauen. Auf Max Liebermanns „Münchner Biergarten, 1884“ zum Beispiel. Einem Schnappschuss gleich fängt der Künstler (1847-1935) hier einen Sommertag in der bayerischen Landeshauptstadt ein. Und da ist es wieder, das pralle Leben. Spielende Kinder, deren Kleidchen am Ende dieses schönen Tages – man ahnt es – nicht mehr ganz so fleckenfrei weiß strahlen werden; die kräftige Wirtin, die schon so manche Mass herangeschafft hat; die Stammtischbrüder, die feinen Damen, die Musikanten, die Ammen, die Alten, die Jungen. Alle unter dem Blätterdach der Kastanien vereint. Wenn man dann in Bernhard Maaz’ Text liest, dass Liebermann im selben Jahr München in Richtung Berlin verlassen hat, wirkt diese Biergartenszene gleich noch wärmer, nostalgischer; wie der liebevolle Blick eines Abschied Nehmenden. Wer also meint, Kunstgeschichte sei langweilig, muss Misanthrop sein. Weil jede Kunst das Menschsein spiegelt.
Deshalb ist es ein Glück, dass sich der Autor nicht auf die bekannten Höhepunkte der Sammlung beschränkt. Natürlich kommen sie alle vor, die Dürers und Raffaels, die Picassos und Polkes. Aber eben auch weniger bekannte Namen und Werke, die sonst nicht den großen Auftritt bekommen. „Ich möchte in die Nischen der Kunstgeschichte leuchten“, betont Maaz. Der dadurch gleichzeitig aufzeigt, dass jede Zeit zwar bestimmte Moden kennt – doch zudem immer eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. „Kunstgeschichte ist kein Gänsemarsch der Stile. Mir war es wichtig zu zeigen, wie sich Künstlerinnen und Künstler gegenseitig bereichert und voneinander abgegrenzt haben“, betont Maaz. Dazu wagt er stets Seitenblicke auf andere Künste.
So entsteht ein fundierter Streifzug durch die europäische Malereigeschichte, orientiert an all dem, was in Bayern lagert. Und davon erzählt, was unser Dasein ausmacht. Neben den zu Beginn genannten führt der Autor weitere Schlagworte im Begriffsregister am Ende des Buches auf. Dankbarkeit, Endlichkeit, Genuss, Hoffnung, Kampf. Und Leben, so viel Leben.
Bernhard Maaz:
„Die Gemälde der Münchner Pinakotheken“. Hirmer, München, 1416 S., 1040 Abbildungen; 98 Euro.