Den „frischen Wald“ hätte er, das Waisenkind, gleich besungen. Und sich zartbitter gefragt, wie seine Mutter wohl ausgesehen hat. Doch Tenor Michael Heim, wedelnder Handrücken vor der Kehle, schaut hilfesuchend in die Seitengasse. Wenig später bricht er ab und wendet sich ans Publikum: Es tue ihm leid, er könne nicht weitermachen. Vorhang. Intendant Stefan Tilch tritt davor, kündigt eine Beratung an.
Schon vor Beginn der „Siegfried“-Premiere im Landshuter Theaterzelt hatte er seinen Titelrollen-Sänger als erkrankt entschuldigt. Husten, Fieber, aber die Stimme funktioniere. Hat sie auch, obgleich es sich Heim in Akt eins mit gedimmter Dramatik eingerichtet hatte. Gibt im akustisch heiklen Zelt schließlich Mikro-Verstärkung, wird er sich gedacht haben. Also lieber Retter sein. Ein schneller Ersatz (so wie im Sommer in Bayreuth passiert) ist dem finanziell klammen Landestheater Niederbayern ja nicht möglich. Seltsam bleibt trotzdem, dass Heim laut Intendant seit einer Woche an der Erkältung laborierte: Wer da nicht rechtzeitig die Notbremse gezogen hat?
Das Ergebnis der Krisensitzung: 20 Minuten Pause, kein Drachenstich, dafür Sprung in Akt drei zu einem „Best-of“ (Tilch). Der unter dem Decknamen Wanderer umherziehende Wotan und seine Flamme, die weise Erda, dürfen sich also letztmals angiften, danach bekommt Brünnhilde die Chance inklusive hoher Cs, was Peggy Steiner ganz formidabel nutzt. Einen Anspielpartner hat sie auch: Michael Heim, der sang- und klanglos die Lippen bewegt. Und da wird es endgültig skurril in Niederbayern.
Dabei hatte dieser „Siegfried“ vielversprechend begonnen. Dem regieführenden Chef Tilch ist klar: Mit seinem zwischen Landshut, Passau und Straubing umherziehenden Landestheater kann er großen Häusern nicht das Wagner-Wasser reichen. Doch sein „Ring des Nibelungen“, den er vor drei Jahren startete, sieht den Kompromiss auf enger Bühne und fast ohne Technik als Chance.
Noch genauer kann man sich um die Figuren kümmern (was Tilch intelligent und augenzwinkernd tut). Viel wird auch mit Florian Rödls Videos aufgefangen. Da gibt es ein bisschen erläuternde Vorgeschichte mit durchziehender Textfläche à la „Star Wars“ oder zur Schmiede-Szene eine Feuersbrunst wie beim Finale der „Götterdämmerung“. Und immer wieder ist da ein Radar, auf dem die Personen geortet sind: Welch höhere Macht da wohl gerade zuschaut?
Außerdem, damit werden die Insider bedient, tauchen gern Querverweise auf. Die Nornen, eigentlich erst in der „Götterdämmerung“ dabei, nähen schon jetzt am rissig gewordenen Kleid von Urmutter Erda. Alberich hat seinen Sohn dabei, den späteren Siegfried-Mörder Hagen. Der stumme Teenie ist ganz fasziniert vom aufgekratzten Wotan/Wanderer und dessen Zaubertricks – er wird sich gut merken, wie man Macht über alle gewinnt.
Wieder hat Bühnenbildner Karlheinz Beer Bücherwände gebaut, Weltwissen als Machtfaktor also. Die Schmiede schmeckt ein wenig nach Messie-Haushalt, zum finalen Liebesduett gibt’s eine leere Bühne mit Video-Fahrt durchs Sonnensystem. Obwohl der „Siegfried“ als Scherzo des „Rings“ gilt, werden die Figuren nicht überzeichnet. Gerade auf kleiner Bühne führt das ja eher zu szenischer Belästigung – vor allem im Falle von Mime.
Beim textgenauen und überraschend klangbewussten Jeff Martin ist das kein Keifer, sondern ein Freak mit Stil und gestutzter Irokesen-Frisur. Stephan Bootz ist, wie schon in den vorausgehenden „Ring“-Teilen, ein cooler bis hibbeliger Jung-Wotan. Breit und machtvoll lässt er seinen Bass strömen, auf der Zielgeraden ist wohl auch er froh um die Mikros. Vor allem weil Dirigent Basil H.E. Coleman sich und dem Publikum die volle Dröhnung gönnt. Die Niederbayerische Philharmonie darf saftig aufspielen. Das Blech verströmt satte Wärme, die Streicher schlagen sich hochachtbar. Coleman hält die Tempi extrem straff, Schaumbäder in Wagner-Wonnen sind ihm fremd.
Immerhin bringt die „Best-of“-Fassung eine Begegnung mit Tiina Penttinen als Erda und ihrer abgründigen Altstimme. Von Michael Heims Siegfried lässt sich so viel sagen: Szenisch ist die Mixtur aus Senior-Apache und Kelly Family gewöhnungsbedürftig. Vokal dürfte er sich (im gesunden Zustand) mit locker geführtem Heldentenor die Killerpartie gut zurechtlegen können. Am Ende des sonderbaren Abends gibt’s nur Ensemble-Vorhänge, keinen Einzel-Applaus. Sogar Bassist Heeyun Choi darf auf die Bühne, obwohl man seinen Fafner fast vollständig gestrichen hatte. Allgemeiner Jubel, in Niederbayern nimmt man solch Theater-GAU eher pragmatisch: „Fahrt’s ihr heim?“, hört man in der Zwangspause an einem der Stehtische. „Mir hamma hier was zum Essen b’stellt, des ess’ ma jetzt auf.“
Weitere Vorstellungen:
Straubing am 15. 11.; Landshut am 27. 11., 3. 12. und 28.1.; Passau am 14., 21. und 27. 5.; Karten unter landestheater-niederbayern.de.