Von Opfern, Tätern, Menschen

von Redaktion

Grete Weils bisher unveröffentlichter Roman „Der Weg zur Grenze“ ist nun erschienen

VON SABINE DULTZ

„… die würden nicht zögern, mich als Juden tot zu schlagen, wenn sie je an die Macht kämen“, antwortet in ihrem kleinen politischen Disput Klaus seiner Monika, die er in vier Wochen in Rottach-Egern heiraten wird. „Aber sie werden nicht an die Macht kommen, das sind ja Hirngespinste“, entgegnet Monika ihrem Liebsten. Sie befinden sich gerade im sonnigen Südfrankreich. Man schreibt das Jahr 1930.

Die Geschichte dieser jungen Menschen erzählt in ihrem 1944 im Versteck ihres Amsterdamer Exils verfassten Roman „Der Weg zur Grenze“ die Schriftstellerin Grete Weil (1906-1999). Er war bis jetzt unveröffentlicht. Warum? Das ist die erschütternde Frage. Denn es handelt sich um ein wunderbares Buch, das uns vertraut macht mit dem Leben zwischen München und dem Tegernsee, dem wilden Berlin, der Ersten-Weltkriegs-Nachkriegszeit, dem emanzipatorischen Daseinsgefühl der Jugend, dem Glück der Liebe, aber auch mit dem heraufziehenden Faschismus, dem Judenhass, dem Leid der Verfolgung.

Es ist eine literarisch ummantelte und verfremdete Autobiografie. Grete Weil erweist sich hier als hervorragende Erzählerin. So fügt sie eine kleine Geschichte an die andere, woraus sich ein pralles, breit gefächertes und auf jeder Seite des Romans fesselndes Bild der zu Opfern oder Tätern, zu Freunden oder Verrätern werdenden Menschen dieser Zeit ergibt.

Monika und Klaus, Großcousine und Großcousin, beide aus gutbürgerlichem Haus, er aus Frankfurt am Main, Fabrikantensohn und frischgebackener Doktor phil., sie die Tochter eines Arztes, die Familie wohnt in München und in Rottach-Egern. Wer um das Schicksal der Autorin und ihres Mannes weiß – beide stammen sie aus jüdischen Familien –, wer weiß, dass Edgar Weil 1941 von den Nazis im KZ Mauthausen ermordet wurde, erkennt ihn in der Romanfigur Klaus wieder, die in Dachau ihr tragisches Ende erfährt.

Doch bis es so weit ist, lesen wir von der exzentrischen Freundin Mary mit ihren amourösen Kontakten zur Welt der Prominenz; von Arnim, dem obskuren Bewohner eines Hauses am Wald, der nicht ganz ehrlich mit alter Kunst handelt, zu dem die junge Monika sich hingezogen fühlt; von dem Kommunisten Hans Hauser, der im Beisein von Monika auf offener Straße erschossen wird; von Herrn Hartmann, dem Kindernahrungsfabrikanten, der karrierebedacht politisch mit den Wölfen heult. Wir lernen zwei besondere Frauen kennen, deren großherzigen, immer liebesbereiten Ex-Mann Meyerhof und dessen dritte, blinde Ehefrau. Ein Psychologe, ein blonder Hüne von Mann, ein Bollwerk gegen die braunen Machthaber. Er übernimmt den elterlichen Hof und baut ihn zu einer freidenkerischen Schule um, an der Klaus und Monika tätig sein werden. Und Weil erzählt vom Rosenmontagsball in München, am 27. Februar 1933, an dem in Berlin der Reichstag brennt. Da wird dem Paar bewusst, „dass die Zeit der großen Bitternis angebrochen war“.

Eingefasst ist der Roman von einer Rahmenhandlung. Zeitlich angesiedelt ist sie 1936, nach Klaus’ Ermordung im KZ Dachau. Monika, eine gute Skifahrerin, steigt mit anderen Wintersportlern in München in den Zug, der sie ins Oberland bringen wird. Ihr Ziel: mit den Skiern über die Grenze nach Österreich. Schon auf dem Bahnsteig entdeckt sie zufällig der jünglingshafte Dichter Andreas, der sich an sie hängt, den sie nicht loswird, mit dem sie schließlich, weil das Wetter kippt, in der Berghütte der Freundinnen Station macht. Dort erzählt sie ihm ihre und Klaus’ Geschichte. Und es entsteht jenes realistische Bild, fast kann man mit Lion Feuchtwanger sagen, das einem „die Menschen der bayerischen Hochebene“ geradezu plastisch vor Augen führt. Dieser Erstlingsroman Grete Weils liest sich als eine wunderbare Entsprechung zu Feuchtwangers „Erfolg“.

Die Größe der Grete Weil liegt nicht allein in ihrer schriftstellerischen Kunst, ihrer erzählerischen Kraft. Es ist auch die Größe ihres Herzens, die uns Heutige so tief beeindruckt, indem sie 1944 ihr literarisches Alter Ego Monika über Klaus’ gewaltsamen Tod philosophieren lässt: „Man hat Klaus ermordet, weil die Menschen ihm das Etikett ,Jude‘ angeheftet haben, aber es hätte für ihn genauso schlimm ausgehen können als Deutscher in einem vergangenen oder in einem kommenden Krieg … All die vielen Männer mit dem Etikett ,Deutsche‘, ,Franzosen‘, ,Engländer‘, ,Russen‘ sind Opfer, genau so gut wie die Juden. Millionen Frauen haben gleich Monika geschrien, Millionen Frauen werden es nach ihr tun. Bis eines Tages die Männer, die Geliebten der Frauen, die Menschen zur Waffe greifen und wissen, warum sie es tun, und die Mörder, die sie an die Fronten und in die Konzentrationslager treiben, niederschießen.“

Grete Weil:

„Der Weg zur Grenze“. Mit einem Nachwort von Ingvild Richardsen. C. H. Beck, München, 383 Seiten; 25 Euro.

Artikel 5 von 6