Musik ohne Grenzen

von Redaktion

Zum 80. Geburtstag des Dirigenten, Pianisten und Humanisten Daniel Barenboim

VON MARKUS THIEL

Einmal sieht man den Teenie am Klavier, ein anderes Foto zeigt ihn schon damals mit Taktstock, klarerweise in Schwarz-Weiß. Dann gibt es noch ein Video aus dem Jahr 1970, dazu viele Schnappschüsse aus Konzerten. Man erschrickt ein wenig, wenn man zurzeit den Facebook-Auftritt der Berliner Staatsoper Unter den Linden anschaut. Der sieht so retrospektiv aus, nach Vorbeiziehenlassen eines erfüllten Lebens, ein bisschen nach Abschied also. Dabei versteht das Haus die Aktion als „Countdown“ bis zum heutigen Dienstag, bis zum 80. Geburtstag von Daniel Barenboim.

Bekanntlich gibt es kein Geburtstagskonzert, nirgends. Ursprünglich wollte Barenboim mit seinem Künstlerfreund Zubin Mehta auf den Bühnen feiern, etwa in München oder Berlin, das haben sie zu ihren runden Geburtstagen gern so gehalten. Doch Barenboim hat sich noch immer nicht erholt von seiner schweren Erkrankung, einer Entzündung der Blutgefäße. Im August ist er noch einmal aufgetreten. Man sah ihm bei den Salzburger Festspielen an, welch schlimme Auswirkungen diese Vaskulitis haben kann.

Erst in den vergangenen Monaten ist so richtig klar geworden, wie sehr dieser große Künstler fehlt. Nicht nur auf den Konzertpodien oder in den Orchestergräben der Opernhäuser, sondern auch als Mahner, als streitbarer Humanist. Vielleicht ist es für einen Menschen wie ihn gar nicht möglich, Schranken zu akzeptieren, ob sie nun nationaler oder politischer Natur sind. Geboren in Argentinien, bald Übersiedlung nach Israel, Studium in Paris und Wien: Das grenzübergreifende Denken, das Bewusstsein, dass Leben nur im Zusammenhalt funktioniert, nicht als engstirnige Abgrenzung, als Verteidigung eingefahrener Positionen, hat Barenboim dank seiner Biografie erfahren. Er dürfte außerdem der einzige Mensch sein, der neben der argentinischen auch die israelische und palästinensische Staatsbürgerschaft besitzt.

Und Barenboim wurde deshalb lästig. Die politisch Verantwortlichen in Israel bringt er seit Jahrzehnten mit seinen offensiv vorgebrachten Versöhnungsaufrufen zur Weißglut. Auch mit seinem Eintreten für das Werk des Antisemiten Richard Wagner. Gerade Letzteres führt vor, dass es Eindeutigkeiten nicht gibt, sondern nur ein ständiges Hinterfragen. Es ist eines der größten Paradoxe nicht nur der Musikgeschichte, dass Barenboim seine wichtigsten Erfolge bei den Bayreuther Festspielen feierte, mit dem „Ring des Nibelungen“ und „Tristan und Isolde“, auf dem Grünen Hügel also, der einst tiefbraun gefärbt war.

Überhaupt ist es bezeichnend, dass Barenboim sich musikalisch am wohlsten in der deutschen Tradition fühlt. Nicht nur bei Wagner, auch bei Brahms, Schumann oder Beethoven. In seiner Vorliebe für Vollsaftiges ignoriert er dabei weitgehend die Erkenntnisse der jüngeren Interpretationsgeschichte: Barenboim versteht sich eher als Erbe Furtwänglers (der ihn einst protegierte) als dem Team Harnoncourt verpflichtet – hier gibt es offenkundig, noch ein Barenboim’sches Paradox, doch Grenzen.

Schon früh feierte Barenboim, der Pianist, am Dirigentenpult Erfolge. Das reich und weich schattierte Klavierspiel, das instinktive Erfassen von dramatischen Entwicklungslinien sind fast beispiellos. Diese Flexibilität, dieses Klangbewusstsein verlangte Barenboim stets auch von den Orchestern. Die Berliner Staatskapelle erzog er (auch mit alten Maestri-Methoden) zu einem Spitzen-Ensemble. Überhaupt lässt sich die Linden-Oper ohne ihren Generalmusikdirektor kaum denken: Ihm ist nicht nur der Rang des Hauses zu verdanken, sondern auch, dass sie in der finanziell gebeutelten Stadt mit ihren drei Opernhäusern überhaupt noch existiert.

Zu Barenboims Lebenswerk zählt zudem das 1999 mit dem palästinensischen Publizisten Edward Said gegründete West-Eastern Divan Orchestra. Das Ensemble führt eine gelebte Koexistenz zwischen Israel und den Palästinensern vor – und damit die versöhnende Kraft der Musik. Diese Initiative wurde ergänzt um die Berliner Barenboim-Said-Akademie mit ihrem wunderbaren Pierre-Boulez-Saal.

Nicht nur damit beweist Barenboim: Musik kann im luft- und politikleeren Raum nicht existieren, sondern muss sich ihrem Umfeld stellen, mit diesem interagieren. Insofern stellt sich die Frage nicht, ob Barenboim ein passabler Politiker geworden wäre. „Um Himmels willen“, sagte er einmal im Gespräch mit unserer Zeitung. „Ich bin viel lieber ein Musiker, der sein Herz über Politik ausschüttet, als ein Politiker, der über Musik spricht – oder glaubt, dies zu können.“ Auch wenn ihn das Selbstverständnis der Entscheidungsträger angesichts der labilen Weltlage immer mehr bekümmert: „Wir haben eine Menge Politiker, aber kaum Staatsmänner.“

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