Irgendwann hat er auf dem Balkon gesessen, an dieser unverschämt schönen azurblauen Küste; den Blick auf die Lichter der Promenade des Anglais von Nizza. Jahre später sitzt Max Beckmann (1884-1950) in Amsterdam im Exil. Den Duft von Lavendel und Rosen hat er nicht mehr in der Nase, seine Haut ist blass geworden, keine Grille zirpt vor seinem Ohr. Aber Beckmann spürt es noch immer in sich, das sonnendurchflutete Savoir-vivre der französischen Riviera. Eine Ansichtskarte aus Nizza in seinem Atelier holt die Szenerie zurück in seinen Blick, den Rest machen die Erinnerung und seine sehnende Sucht. Max Beckmann, der ewig Reisende. Wenn er es nicht mit dem Körper konnte, dann mit dem Geist. Gedankenkreisen. Gedankenreisen.
Auch die Sammlung Moderne Kunst in der Pinakothek der Moderne hat sich vor fünf Jahren auf eine Reise gemacht. Eine Abenteuerreise nennt es Sammlungsdirektor Oliver Kase beim Presserundgang durch die neue Schau, mit der er und sein Team in ihren Zielhafen eingelaufen sind. „Max Beckmann – Departure“, Abreise, in Großbuchstaben. Was für ein Dampfer da in München zur großen Fahrt einlädt. Alle Maschinen laufen auf Hochtouren, müssen sie auch, denn dieses Schiff trägt Europas Schicksalsjahre in sich. Zwei Weltkriege, Exil, Auswanderung: Max Beckmanns Biografie steht exemplarisch für viele Menschenleben am Beginn des 20. Jahrhunderts. Sein Werk ist weltbekannt, er einer der am häufigsten ausgestellten Künstler seiner Zeit – ketzerische Frage vor Ausstellungsbesuch: Was soll die Neues bereithalten? Dann betritt man den ersten Saal – und ist sofort bereit, die Segel zu setzen und sich mit hinauszuwagen auf eine Odyssee voll Glück und Schrecken, voller Liebe und Triebe, Gewalt und Zärtlichkeit.
1932 brach Beckmann im Werk „Departure“ zu neuen Ufern auf. In Triptychen wandte er sich monumentalen Figuren aus mythologisch-christlichen Bildwelten zu. Doch die Leinwände des ersten dieser dreiteiligen Gemälde haben die Kuratoren Kase, Christiane Zeiller und Sarah Louisa Henn nicht wie sonst üblich brav nebeneinander gehängt; sondern das mittlere Werk ein paar Meter rückversetzt. Dieses Spiel mit Perspektiven, durch das die Besucher die Aufbruchsstimmung auch physisch spüren sollen, zieht sich durch die klug angelegte Schau.
Die bietet nicht allein jene Gemälde Beckmanns, die sich dem Thema Reise widmen, sondern ist garniert mit allerlei aus dem Max Beckmann Archiv der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. „Archiv“ – klingt furchtbar verstaubt. Ist aber: der Speicher eines Lebens. Prall gefüllt mit Geheimnissen und Abenteuern; „Kummer und Champagner“, wie es Kunsthändler Israel Ber Neumann so schön formulierte. Das Kuratorenteam hat mit der Gestalterin Juliette Israël Kabinen entwickelt, die an übergroße Camera obscurae erinnern. Darin liegen Briefe, Ansichtskarten, Rechnungen, die uns vom Menschen Max Beckmann erzählen. Und geben durch Fenster den Blick frei auf das Werk, das dieser Mensch als Künstler schuf. Damit nehmen sie eins seiner Leitmotive auf: Beckmanns künstlerischer Blick fällt häufig durch Fensterrahmen. Von Schiffen, Wohnungen, Hotelzimmern. Gerade die der Grand Hotels, die in den Dreißigern zu Auffangbecken der Heimatlosen und Eskapisten wurden. Schillernde Bühnen des Welttheaters.
Das vielleicht schönste aber wartet in einem der letzten Säle. Da werden Max und seine Frau Quappi lebendig. Per Handkamera filmen sie einander. Lachend, badend, tobend. Mit einem Mal ist da der Duft von Lavendel in der Luft und die Haut fühlt sich warm an wie von der Sonne geküsst. Savoir-vivre. Hingehen – und nachspüren, was Leben heißt.
Bis 12. März 2023
Sammlung Moderne Kunst, täglich, außer Mo., 10-18, Do. bis 20 Uhr.