Ausgelassene Tanzleidenschaft

von Redaktion

PREMIERENKRITIK Die Herbst-Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung im Nationaltheater

VON MALVE GRADINGER

Zwei Jahre Auftrittsverbot wegen Corona. Das war schmerzlich für die Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München und für das Bayerische Junior Ballett (BJB). Jetzt, in dieser Herbst-Matinee der Heinz-Bosl-Stiftung, ausverkauft natürlich, konnten sie endlich alle aufgesparte Tanzleidenschaft rauslassen: Unter so vielen feurig bewegten Füßen meinte man, die Nationaltheater-Bühne vor Freude aufseufzen zu hören. Dazu weitere positive Nachrichten vorweg: BJB-Leiter Ivan Liška teilte mit, dass angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine die Bosl-Stiftung einigen ukrainischen Studenten und Erwachsenen geholfen habe. Außerdem freue er sich sehr, dass sein BJB jetzt als offizielle Junior Company des Bayerischen Staatsballetts gelte – dank dessen neuem Leiter Laurent Hilaire.

Und los ging’s mit einem kompakten Akademie-Showcase: Was es in der Ausbildung an Schritten, Pirouetten, Ports de bras und Sprüngen zu lernen gibt, 70 Tanzbesessene, von der kleinen Ratte bis zum Teenie, führten es im fliegenden Wechsel vor. Raumgefühl, Rhythmus, Musikalität, Körperlinie, komplizierte Schrittfolgen – alles da. Bravo, auch für den Job der gesamten Lehrerschaft.

Dann schon eine große Aufgabe: das „Allegro Brillante“ von 1956 in New York des berühmten George Balanchine zum ersten Satz von Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 3. Ein abstraktes Ballett im Vorwärtsstürmen in die Neoklassik: schnell, nein, rasant – gedacht als zeitgenössisch, sportlich, die Frauen gleichberechtigt, also emanzipiert. Es zu tanzen ist, Pardon, der Hammer. Aber das BJB hält durch (auch bei dieser lamentablen Tonaufnahme. Da muss Hilaire demnächst etwas verbessern).

Was folgt, offenbart wunderbar, wie sich die Neoklassik weiterentwickelt hat, wie diese Kunstsprache (die wir selbstredend schätzen) sich der Lebenswirklichkeit angenähert hat, menschlicher geworden ist. Liška, Norbert Graf, Ballettmeister im Staatsballett, und der freischaffende Maged Mohamed haben zu acht Schubert-Liedern Soli, Duette und Trios choreografiert. Zum Heulen schön. Bewegung fließt, strömt, darf hinauffliegen in eine Hebung und niedergeschlagen zu Boden gehen. Es ist alles in diesen Tanzbegegnungen enthalten: die Ernsthaftigkeit der Texte, die Trauer und dennoch die Liebe zum Leben. Und alles einfühlsam getanzt.

Zum Schluss die Uraufführung „Bonbon“ von Lior Tavori. Bonbon-süß ist hier jedoch nichts. Die Auftragskomposition von Itamar Gross haut immer wieder rein mit fremdartigen Tönen, Klangmischungen und -ballungen. Volkstanzmusik? Eher bedrohliche Weltmusik, aus der sich, wenn man will, die ständige Anspannung in Israel heraushören lässt. Und ähnlich Tavoris Choreografie: Tänze scheinen uns aus dem Kibbuz heraus inspiriert. Tänzer und Tänzerinnen halten sich an den Händen, durchwandern die Bühne. Paare umschlingen sich, aber bekämpfen sich auch. Es ist ein ständiger Bewegungsaufruhr, den man beim Sehen sicher nicht völlig durchschauen kann. Aber Tavori und das BJB in seiner Intensität, das fasst uns. Am Ende Jubel für die Matinee.

Letzte Vorstellung

am 4. Dezember, 11 Uhr; Telefon 089/ 21 85 19 20.

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