Ballettmusiken zu komponieren war für Pjotr I. Tschaikowski (1840-1893) keine minder künstlerische Arbeit. Und den speziellen Wünschen oder auch nachträglichen Änderungsvorschlägen vom choreografischen Großmeister Marius Petipa (1818-1910) kam der Komponist einverständlich entgegen. In ihrem regen brieflichen Austausch entstanden so „Dornröschen“ (1890), Nussknacker“ (1892) und „Schwanensee“ (1894), drei der berühmtesten Ballette der Geschichte. Da müssten doch auch andere Tschaikowski-Kompositionen tänzerisch, also vertanzbar sein, hat sich Choreograf Alexei Ratmansky gedacht.
Jedenfalls wählte er für seine aktuelle Staatsballett-Kreation Bühnen-Musiken aus „Hamlet“, dem „ Sturm“, aus „Romeo und Julia“ und dazu noch ein Tenor-Sopran-Gesangsduett der beiden unglücklich Liebenden. Fertiggestellt und instrumentiert hat es 1894 Sergei I. Tanejew, ein Schüler Tschaikowskis während dessen Lehrtätigkeit von 1866 bis 1878 am Moskauer Konservatorium. Ratmanskys „Tschaikowski-Overtüren“ werden nun am 23. Dezember im Münchner Nationaltheater uraufgeführt.
Es ist bereits seine dritte Arbeit fürs Bayerische Staatsballett. 2014 erlebte man Ratmansky hier erstmals als leidenschaftlichen Erforscher der Ballett-Historie. Anhand von erhaltenen Notationen rekonstruierte er für München Petipas „Paquita“ (1881/82), eine romantische Abenteuerstory um die schöne Tänzerin Paquita, die als Kind von sogenannten Zigeunern entführt und von ihnen aufgezogen wurde.
Sich mit der Ballettsprache des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen, so der Choreograf damals, sei eine große Bereicherung. Rückwärtsgewandt ist er darum sicher nicht. Der 54-Jährige gilt als Vertreter der Neoklassik, die immer auch kleine Bewegungsfreiheiten erlaubt. 2022 übernimmt das Staatsensemble für die bereits etablierte Reihe „Passagen“ Ratmanskys Mussorgski-Arbeit „Bilder einer Ausstellung“, 2014 beim New York City Ballet uraufgeführt.
Um Aufträge braucht er nicht zu bangen. Seine Ballettvergangenheit ist Eintrittsbillett in jede Spitzencompagnie. 1968 im damaligen Leningrad (heute wieder St. Petersburg) geboren, an der Moskauer Bolschoi-Ballettakademie ausgebildet, Erster Solist im Ukrainischen Nationalballett, im Royal Winnipeg und im Königlich Dänischen Ballett, beginnt er bereits in seiner aktiven Zeit zu choreografieren. Von 2004 bis 2008 leitet er das Bolschoi-Ballett. 2009 verpflichtet ihn das New Yorker American Ballet Theatre (ABT) als Artist in Residence. Auszeichnungen füllen ihm zuhause sicher Schränke.
Zum neuen Werk sagt Ratmansky: „Einmal ist da Tschaikowskis wunderbare Musik, zum andern sind diese Shakespeare-Dramen dem Publikum bestens bekannt. So kann ich auf Inhalt und Personal verweisen, ohne die ganze Geschichte detailliert zu erzählen.“ Der Zuschauer ist also frei für seine eigene Interpretation? „Manche Situationen aus den Stücken werden erkennbar sein“, ergänzt Ratmansky. „Generell geht es um Gefühle, um Stimmungen. Und dann ist es auch wieder reiner Tanz – als eine zweite Stimme zur Musik.“
Erzählballette im Stile des 19. Jahrhunderts – meist märchenhaften Inhalts – wie „Dornröschen“ und „Schwanensee“ oder dann ab den 1960er-Jahren Werke wie John Crankos „Romeo und Julia“ und „Onegin“ sind selten geworden. John Neumeier entwirft noch Handlungsballette, aber in den letzten Jahren meist in postmodern aufgebrochener Form. Wie steht Ratmansky dazu? „Das Genre Action-Ballett ist keineswegs veraltet. Der Kartenverkauf beweist es ja. Und wenn eine Compagnie bei mir ein Handlungsballett bestellt, werde ich mit Freude eines choreografieren.“
Beim Schlussapplaus für seine Mussorgski-Choreografie 2022 hielt der Choreograf auf der Bühne die ukrainische, blau-gelbe Flagge hoch: als Zeichen der Solidarität für das von Putin überfallene Land. Dazu muss man noch wissen: Ratmansky stammt aus ukrainisch-russischer Familie und ist mit einer Ukrainerin verheiratet. Auf Putins Angriffskrieg angesprochen, reagiert er unmissverständlich: „Ich habe meine Zweifel, ob ich ans Bolschoi- oder Mariinsky-Ballett zurückkehre. Möglich wäre das nach einer Entmachtung Putins, nach Bestrafung der Kriegsverbrecher und der Rückgabe aller besetzten ukrainischen Gebiete.“
Premiere
am 23. Dezember;
Karten unter Telefon 089/21 85 19 20.