„Wunder gibt es immer wieder“ – der Vers aus Katja Ebsteins Siebzigerjahre-Ohrwurm trifft auch zu auf das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München, gewohnheitsmäßig ZI genannt. Heuer feiert es seinen 75. Geburtstag. 1947 hat sich das wohl niemand vorzustellen gewagt.
Die neue Forschungsstätte hatte nämlich ihre Wurzeln in unermesslichem Leid, grauenhaften Untaten und dem tapferen Versuchen, all dem zumindest ein wenig gerecht zu werden: Das ZI erwuchs aus dem Münchner Central Collecting Point (CCP), den die US-amerikanische Militärregierung nach dem Zweiten Weltkrieg im ehemaligen Verwaltungsbau der NSDAP eingerichtet hatte. Dort sammelten die „Monuments Men“ Kunstwerke und andere Artefakte, von denen man annahm, dass sie Raubkunst waren. Die Restitution begann.
Noch heute muss die Provenienzforschung ein wichtiges Anliegen des ZI sein, denn sie wurde vom Staat, den Kommunen und den Museen bis in die Neunzigerjahre vernachlässigt. Trotz dieser Belastung durch den „Täterort“ oder vielleicht gerade deswegen hat sich das Zentralinstitut zu einer vitalen demokratischen Kraft entwickelt. Die US-Kunsthistoriker hatten 1946 größtmögliche Freiheit bei der wissenschaftlichen Reise angeboten, und die wurde in den Jahrzehnten immer stärker genutzt.
Heute schreibt Direktor Ulrich Pfisterer, Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität für Allgemeine Kunstgeschichte (Schwerpunkt Italien), im so informativ wie pfiffig konzipierten Jubiläumsband: „Aufgabe des ZI muss es daher sein, im kritischen Bewusstsein der eigenen institutionellen Begrenztheiten einen Ermöglichungs-, Denk- und Diskussionsraum für eine offen-umfassende, vielfältig engagierte Kunstgeschichte heute und in Zukunft bereitzustellen.“
Das meint Forschende, fortgeschrittene Studierende, Stipendiaten und eben auch die Öffentlichkeit. Sie ist zu den Vorträgen ebenso eingeladen – analog und digital (www.zikg.eu) – wie zu Ausstellungen oder zu der München-App „Munich ArtToGo“. Denn Pfisterer ist sich im Klaren über „die zunehmende Macht und Relevanz der Bilder, der Kunst und des Ästhetischen für die Gesellschaft und jeden Einzelnen“. Und über diese „Macht“ soll sich ein breiter Dialog entspinnen.
Der CCP hatte für seine Arbeit, so schildert es Professorin Iris Lauterbach im Buch, eine Bibliothek und eine Photothek aufgebaut; die sollten weiter nutzbringend eingesetzt werden, wichtig für Lehre und Forschung im zerstörten Deutschland. Entscheidend waren die thematische Freiheit, ein hohes wissenschaftliches Niveau, die internationale Ausrichtung (das ZI schaffte es sogar, mit Kollegen aus dem Ostblock zusammenzuarbeiten) und die Vergabe von Stipendien. Der Zeitrahmen sollte von der mittelalterlichen bis zur aktuellen Kunst gespannt werden; wobei letztere lange aus dem Fokus gerutscht war.
Im Buch „ZI 75“ können Interessierte entdecken, dass der Kunstgeschichts-Hort kein Elfenbeinturm ist, sondern voller Überraschungen steckt, voller menschlicher und menschelnder Schicksale (von Ida Kohl, die uns ins Paris von 1845 entführt, bis zum ersten ZI-Direktor Ludwig Heinrich Heydenreich, der sich aus seiner NS-Verstrickung herauszuwinden verstand) und voller Schätze an Quellentexten, Fotografien (sogar von der Kiewer Sophienkathedrale 1930) und an Publikationen: Material, das sukzessive digital erschlossen wird, wenn es das nicht schon ist.
Mit 19 000 Werken fing die Bibliothek an, jetzt steht man bei 685 000 Titeln, weltweit eine der umfangreichsten Fachbibliotheken. Auch der kunstnarrische Herzog Franz von Bayern hat ihr seinen eigenen imposanten Bestand überlassen (2009) – und sorgte zum Glück für einen Schub Richtung Gegenwartskunst. Auf dass das ZI die kommenden 75 Jahre und darüber hinaus neugierig bleibe.
Wolfgang Augustyn, Iris Lauterbach, Ulrich Pfisterer (Hrsg.):
„ZI 75 – das Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Zum 75-jährigen Bestehen“. Sieveking Verlag, München, 431 Seiten mit vielen Abbildungen; 50 Euro.
Ausstellung: „Kunstgeschichte! Forschungsinstitute weltweit“, bis 13. Januar 2023, Mo.-Fr. 9-20 Uhr; Katharina-von-Bora-Str. 10.