Kaum eine Persönlichkeit hat die Welt der klassischen Musik in den vergangenen Jahrzehnten so aktiv geprägt wie Daniel Barenboim. Nun zieht sich der Dirigent und Pianist zurück: Der seit Langem erkrankte Künstler gibt seinen Posten als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden auf. Das gab der 80-Jährige am Freitag in Berlin bekannt. „Leider hat sich mein Gesundheitszustand im letzten Jahr deutlich verschlechtert. Ich kann die Leistung nicht mehr erbringen, die zu Recht von einem Generalmusikdirektor verlangt wird“, schreibt er in einer Erklärung. „Deshalb bitte ich um Verständnis, dass ich zum 31. Januar 2023 diese Tätigkeit aufgebe.“ Er bitte Berlins Kultursenator Klaus Lederer um Auflösung des Vertrags.
Barenboim war seit 1992 Generalmusikdirektor und wurde im Jahr 2000 von der Staatskapelle zum Chefdirigenten auf Lebenszeit gewählt. Lederer zeigte sich in einer Mitteilung „überzeugt, dass Daniel Barenboim die richtige Entscheidung getroffen hat“. Damit stehe das Wohl der Staatsoper und der Staatskapelle im Vordergrund. „Dies alles verdient größten Respekt“, sagte der Linke-Politiker. Staatsopernintendant Matthias Schulz sieht sein Haus „zu unendlichem Dank verpflichtet“. Seit mehr als 30 Jahren habe Barenboim „seine unerschöpfliche Kraft als Künstlerpersönlichkeit mit weltweiter Ausstrahlung“ der Staatsoper und der Staatskapelle Berlin zugutekommen lassen. „Der Respekt ist groß, dass Daniel Barenboim nun im Sinne der Institution diesen Schritt geht“. Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) nannte Barenboim „einen der bedeutendsten Pianisten und Dirigenten aller Zeiten, der jahrzehntelang auch das deutsche Musikleben entscheidend geprägt hat“. Seine Zeit als Generalmusikdirektor war „ein Glücksfall für Berlin und Deutschland“.
Wie berichtet, war Barenboim erst zum Jahreswechsel ans Dirigentenpult zurückgekehrt. Deutlich geschwächt dirigierte er am vergangenen Samstag die Staatskapelle mit Beethovens neunter Sinfonie. Auch ein für Freitag mit den Berliner Philharmonikern geplantes Konzert wurde nicht abgesagt. Im Oktober 2022 hatte der Dirigent angekündigt, er müsse sich auf sein körperliches Wohlbefinden konzentrieren. „Es wurde eine schwere neurologische Erkrankung bei mir diagnostiziert“, schrieb er. Die Staatsoper musste ein zum 80. Geburtstag geplantes Konzert absagen, bei dem Barenboim Klavier spielen sollte. Zuvor musste der Künstler bereits das Dirigat für die zu seinem Geburtstag realisierte Neu-Inszenierung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“ an der Staatsoper abgeben. Für ihn sprangen Christian Thielemann und Thomas Guggeis ein. Thielemann vertrat Barenboim auch während der Asientour mit der Staatskapelle. Er gilt zwar als möglicher Nachfolger, hat aber zuletzt immer wieder auf seinen bis 2024 laufenden Vertrag mit der Staatskapelle in Dresden verwiesen.
Seit frühester Kindheit dreht sich Barenboims Leben um Musik. Der Enkel jüdischer Einwanderer wurde 1942 in Buenos Aires geboren. Sein Vater gab dem Fünfjährigen Klavierunterricht. „Ich kannte praktisch keine Leute, die nicht Klavier spielten“, erinnerte er sich später, „in meiner kindlichen Auffassung spielte alle Welt Klavier“. 1952 zogen Ada und Enrique Barenboim mit ihrem Sohn nach Israel und damit näher an die europäischen Musikzentren. Mit zehn Jahren debütierte der Pianist bei den Salzburger Festspielen, in Rom ging er mit zwölf als jüngster Schüler in die Dirigentenklasse an der Accademia di Santa Cecilia, in Paris nahm er Kompositionsunterricht. Von Ende der Sechzigerjahre an stand Barenboim immer häufiger am Pult internationaler Orchester. 1992 zog es Barenboim als Generalmusikdirektor an die Berliner Staatsoper. Er formte die Staatskapelle Berlin zu einem Orchester von Weltrang. Vor drei Jahren wurden Vorwürfe laut, Barenboim missbrauche Machtstrukturen. Es folgten Widerspruch und Untersuchungen. Schließlich wurde sein Vertrag bis 2027 verlängert. Nun tritt er vorzeitig ab.