Es gibt wohl kaum einen Rocker, der so gut altert wie John Cale (abgesehen von Keith Richards, der heute so alt ist, wie er schon seit Jahrzehnten aussieht). Cale – walisischer Wüterich, kantiger Querkopf und als studierter Musiker bereits bei Velvet Underground in den Sechzigern für die Avantgarde zuständig – wird im März 81 Jahre alt. Und er hat sich nicht nur optisch blendend gehalten. Seine Musik steht auf eine Art im Hier und Jetzt, wie das kein anderer Künstler seines Alters zustande bringt.
Dabei handelt auch sein neues Werk – das erste seit zehn Jahren – von der Vergänglichkeit. Ja: „Mercy“ könnte sogar ein Abschiedsgruß sein, der Titel („Erbarmen“) eine flehentliche Bitte an Schnitter Tod. Die Musik würde dazu passen: Atmosphärische Klangwellen aus Synthesizern und Streichern branden über die Konturen aus elektronischem Schlagwerk, verwischen die Spuren der Erinnerung an Cales Rock-Vergangenheit wie der Nebel über dem Hades. Eine spannende, für alte Fans durchaus fordernde 70-Minuten-Reise in zwölf Songs.
Der Zahn der Zeit ist auch in den Texten das beherrschende Thema: In „Time stands still“ stellt der Senior zunächst sarkastisch fest, dass Europas Glanz und Gloria ja nun im Schlamm versunken seien, von der Kirche ganz zu schweigen. Dann fragt er: „Did you realize how late it was?“ Die Antwort: „Later than you think.“ Denn während sich der finanziell und geografisch gut gestellte Teil der Menschheit in seiner Gartenlaube verbarrikadiere, wehten sogar in unserem Hinterhof die Wirbelstürme, die sozialen und die ganz realen. Den Klimawandel thematisiert Cale konkret in „The legal Status of Ice“: Wie könne man Objekte jahrhundertelanger Ausbeutung zu Subjekten mit eigenen Rechten machen? Auch da läuft die Zeit davon. An anderer Stelle bekommen Trumpismus und der Brexit ihr Fett weg. So singt jedenfalls keiner, der sich von der Welt verabschiedet hat. Und Cale blickt nicht nur mit Ekel auf unser Dasein: „Not the End of the World“ und „I know you’re happy“ klingen deutlich positiver und „Night Crawling“ gar recht munter.
Sein Ohr am Puls der Zeit hatte er schon immer – er produzierte einst die Debüt-Werke von Iggy Pops Stooges, den Modern Lovers, Patti Smith. Auch diesmal hat er angesagte Neutöner ins Studio geholt: den britischen Elektro-Musiker Actress oder die hochgelobten Sängerinnen Weyes Blood (die jüngst auch bei Lana del Rey und den Killers gastierte) und Laurel Halo. Animal Collective auch, aber die sind ja schon fast alte Hasen.
Sie alle sind wahrnehmbar, hinter dem dichten Klangvorhang bleiben ihre Beiträge aber schemenhaft. Am schönsten klingen sie als sirenengleiche Gesangsbegleitung in den Düster-Balladen „Story of Blood“ und „Noise of you“. Letztere, der schönste Song hier, handelt von dem Glück, die Geräusche eines geliebten Menschen um sich zu spüren. Möge John Cale noch lange Geräusche für uns machen.
John Cale:
„Mercy“
(Domino).