Es kann sprechen

von Redaktion

NEUERSCHEINUNG Franzobels irrwitziger, hintergründiger Roman

VON ANDREAS PUFF-TROJAN

Es ist eine unglaubliche Geschichte – und doch ist sie wahr: Als Albert Einstein im April 1955 in Princeton verstarb, nahm der Pathologe Thomas Harvey die Autopsie vor. Und bemächtigte sich dabei Einsteins Gehirn. Vierzig Jahre tingelte Harvey mit dem Denkapparat durch die USA. Der österreichische Autor Franzobel hat aus dieser irrwitzigen Geschichte einen ebenso irrwitzigen Roman gemacht. Denn Einsteins Hirn, in Formaldehyd eingelegt, spricht mit seinem Entwender Harvey. Worüber parlieren sie? Natürlich über Gott und die Welt.

Der Quäker und Pazifist Harvey möchte Einstein Gott näherbringen, der große Physiker hingegen glaubt nur an die Formeln der Physik. Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie, das Göttliche hat hier keinen Platz. Was die beiden eint: Sie sind Womanizer. Noch als reines Gehirn möchte Einstein zu einer Frau. Und Harvey heiratet im Laufe des Romans dreimal und zeugt munter Kinder.

Das alles könnte ins Peinliche abdriften, doch die Erzählkunst Franzobels und sein literarischer Feinsinn machen das Ganze zu einem Lese-Erlebnis voller Witz und Ironie. Der über 500 Seiten starke Roman ist auch eine Zeitreise in die Jahre 1955 bis 1996. Harvey und Einsteins Hirn erleben die Präsidentschaft Eisenhowers und die Ermordung Kennedys. Sie hören Elvis Presley und die Beatles aus dem Radio röhren, erleben die sexuelle Befreiung der 68er-Bewegung, machen bei Woodstock mit. Im LSD-Rausch erlebt Einstein als Gehirn den urgeschichtlichen Moment des Urknalls – woohoo! Im Alter befreundet sich Harvey mit dem literarischen Leitstern der Beat-Generation: William S. Burroughs, ein echter Kumpel und wackerer Trinker.

Im Roman begegnet man auch historischen Figuren aus dem Umfeld von Einstein: dem an Schizophrenie leidenden Eduard Einstein, der weise Worte spricht: „Die Formel für Glück steckt nicht in Zahlen.“ Hans Albert Einstein wiederum ist einverstanden, dass Thomas Harvey das Gehirn zwecks Studien behält. Beide Söhne des berühmten Physikers sind allerdings nicht gut auf ihren Vater zu sprechen. Bei ihm hätte der Forschungstrieb den Familiensinn in Quantenteilchen aufgelöst. Und dann gibt es noch Otto Nathan, Ökonom und Einsteins Nachlassverwalter. Er misstraut Harvey, und doch nähern sich beide an, werden Freunde – dank Einsteins Hirn.

Das fiktive Personal besteht zum Teil aus Betrügern und einem Mörder. Harvey seziert als Quäker und Pazifist aus ihrem Wesen dennoch einen guten Kern. Der Glaube ist sein Fels in der Brandung. Eine besondere Stellung nimmt FBI-Agent Sam Shepperd ein: Er soll Harvey wegen Einsteins Hirn beschatten. In Wahrheit ist er dessen Schutzengel. Wer mag ihm das glauben? Niemand – und so landet er im Irrenhaus. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rechnet keiner mehr mit Engeln. Niemand scheint sie zu brauchen. „Für Engel gab es keine Stellenvermittlung, keine Umschulungskurse und keine Ersatzbeschäftigung. Manche litten unter Depressionen, andere hatten Burnout – Berufsrisiko.“

Was Franzobel in „Einsteins Hirn“ zuwege bringt, ist kaum zu überschätzen: Er lässt als literarischer Teilchenbeschleuniger die Welt eines Gläubigen auf das Universum der modernen Physik prallen. Doch diese Gegensätzlichkeit erzeugt nicht Feindschaft, sondern eröffnet den Horizont von Verständnis. Sanfte Ironie, Franzobels Lust am mäandernden Erzählen und sein Einfallsreichtum machen den Text zu einem Lese-Abenteuer, bei dem man gerne über sein eigenes kleines Universum hinausdenkt. „Der Mensch geht an der Wirklichkeit zugrunde, nicht an Wundern“, erklärt Harvey. Einsteins Hirn schweigt und schmunzelt in den Ganglien.

Franzobel:

„Einsteins Hirn“. Zsolnay Verlag, Wien, 544 Seiten; 28 Euro.

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