Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie die Kunst der Johanna Summer funktioniert, der sollte bei Erich Ohser (1903-1944) nachlesen. Klingt vielleicht etwas gaga? Moment! Beide, die Pianistin und der Zeichner, stammen nämlich aus dem sächsischen Plauen. Es gibt viele wunderbare, treffende „Vater und Sohn“-Comics von e.o. plauen, wie Ohser seine Werke signierte, und es gibt diesen einen, natürlich viele Jahrzehnte gezeichnet, bevor Summer 1995 geboren wurde. Dennoch verrät „Der erste Ferientag“, wie die Jazzerin am Flügel arbeitet, vor allem aber: Wie ihre Musik wirkt.
Dazu benötigt e.o. plauen gerade mal vier Panels. Bild 1: Der Vater und ein Spezl schleichen sich ans Bett des schlafenden Sohnes. Bild 2: Sie tragen den Schlummernden samt Bett zum Auto. Bild 3: Der Vater fährt, das Bett mit Sohn hinten festgespannt. Mit dem Finger auf den Lippen bitten er und ein Gendarm andere Verkehrsteilnehmer um Ruhe. Bild 4: Der Sohn erwacht, völlig perplex, in einer traumhaft schönen Idylle, mitten in der Natur. Den Vater freut’s, dass die Überraschung geglückt ist.
Nichts, aber auch wirklich gar nichts hat Johanna Summer nun mit diesem glatzköpfigen Schnauzbartträger gemein – außer, dass sie mit ihrer Musik genauso überrascht, wie jener seinen Sohn mit dem Ausflug. Nachzuhören ist das auf Johanna Summers Album „Resonanzen“, das am Freitag beim Münchner Jazzlabel Act erscheint und das die Pianistin am Sonntag, in München, im Schwere Reiter vorstellt.
Die Künstlerin nimmt hier Werke von Komponisten wie Johann Sebastian Bach, Beethoven, Ravel, Skrjabin – und erzählt diese improvisatorisch weiter. Klingt vielleicht grauenhaft akademisch, ist aber kreative, konzentrierte und kernige Musik. Denn während ihre Zuhörerinnen und Zuhörer denken, sie befinden sich noch im Heimischen, im Gutbekannten – eröffnet sich beim nächsten Atemzug, beim folgenden Anschlag – Überraschung! – eine neue Klanglandschaft. Das Beste: Der Weg dorthin vollzieht sich fast wie im Schlaf.
Johanna Summer bleibt nicht dabei stehen, den Charakter einer mehr oder minder bekannten Komposition herauszuarbeiten, deren Kern freizulegen – sie ist so frei und nutzt diese Klänge, um zu schauen, wohin sie führen. Welche Noten, Läufe folgen. Ihre Miniaturen funkeln. „Johanna Summer ist eine herausragende Jazzpianistin“, ließ ihr Kollege Igor Levit nach Erscheinen ihres von Kritik und Publikum bejubelten Debüts „Schumann Kaleidoskop“ im Jahr 2020 vernehmen. „Sie ist so zentriert und bei sich, geht so souverän mit dem Material um und trifft doch die ganze Zeit ihren eigenen Ton.“ Letzteres ist vermutlich ihr größtes Talent.
Natürlich kann man auf „Resonanzen“ heraushören, welche Komponisten die Pianistin inspirierten. Und doch sind die neun Stücke eigenständig, unabhängig. Neue Werke: aufregend, zeitgemäß, hörenswert. „Ich habe schon als Kind gerne improvisiert, ohne zu wissen, was ich da eigentlich tue“, sagte Johanna Summer vor zwei Jahren im Gespräch mit unserer Zeitung. Inzwischen weiß sie es ganz genau – und doch hat ihre Musik nichts von ihrer Überraschung eingebüßt.
Johanna Summer:
„Resonanzen“
(Act Music).
Konzert: Johanna Summer stellt ihr Album an diesem Sonntag, 20 Uhr, im Münchner Schwere Reiter, Dachauer Straße 114 a, vor; Karten online unter: www.schwerereiter.de